Strukturwandel in der Lausitz? Kann man zum Beispiel in Zittau beobachten. Im südöstlichsten Zipfel Sachsens, kurz vor Tschechien. Jeden Donnerstag von 17 bis 19 Uhr im historischen Salzhaus. Wo man anderswo seinen Einkauf aus prall gefüllten Regalen zusammensucht, finden sich im Gewölbegang bunte Kisten. Jede davon trägt eine Nummer und ist mal vollgepackt mit Salat, Käse, Milch, mal mit anderen frischen Lebensmitteln direkt aus der Region. Eine Frau um die 50 trudelt ein, eine Familie mit Kleinkind, ein älteres Paar. Routinierte Blicke auf die Smartphones, ein rascher Blick auf die Kisten und ein freundliches Hallo in Richtung Anja Nixdorf-Munkwitz – die Abholung ist Alltagsroutine. „In den Kisten liegt, was die Leute im Laufe der Woche über die Marktschwärmer-App bestellt haben“, erklärt die Zittauerin. „Die Bezahlung läuft direkt über die App.“
Inspiriert von inzwischen über 120 „Marktschwärmereien“ in Deutschland, bildet Anja Nixdorf-Munkwitz mit der App die smarte Schnittstelle zwischen Zittauer Haushalten und regionalen Produzenten. Sie koordiniert die Anlieferung der Lebensmittel, beantwortet Fragen der Leute, betreut die wöchentliche Warenverteilung. „Für einige Produzenten ist diese Art der Direktvermarktung ein wichtiges Standbein geworden.“ Ein kleiner Anfang zwar. Aber eine Keimzelle des Wandels, betrachtet man 30 Jahre verfehlte EU-
Agrarpolitik, das übermächtige Oligopol der großen Einzelhandelsketten und eine Politik, die die Nachhaltigkeit kleinteiliger Vermarktungsstrukturen erst ganz langsam zu entdecken beginnt. Diese Keimzelle zu erkennen und in vielen kleinen Schritten zu etwas Größerem weiterzuentwickeln, darin ist Anja Nixdorf-Munkwitz richtig gut. „Im Zweifel muss man die Dinge eben selbst tun, vor allem im ländlichen Raum“, ist die Geschäftsführerin der Stiftung Kraftwerk Hirschfelde überzeugt.
Dafür ist sie das beste Beispiel. 2010 schwammen mit dem Neiße-Hochwasser die Pläne davon, aus dem ehemaligen Kohlekraftwerk Hirschfelde bei Zittau ein Denkmal der Industriekultur zu machen. Die eigentliche Aufgabe der Stiftung. Doch Anja Nixdorf-Munkwitz ließ nach und nach aus ihrem persönlichen Interesse für Regionalvermarktung einfach das neue Arbeitsfeld der Stiftung entstehen. Mit langem Atem, viel Überzeugungskraft und einem über die Jahre gewachsenen Netzwerk hat die studierte Kulturmanagerin schließlich gemeinsam mit dem sächsischen Landwirtschaftsministerium die Entwicklung von zwei sogenannten Bio-Regio-Modellregionen initiiert. Nun darf sie nicht nur groß denken, sondern auch groß planen und für zunächst drei Jahre als Regionalmanagerin Akteure der Regionalentwicklung mit Unternehmen der Land- und Ernährungswirtschaft zusammenbringen und Wertschöpfungsketten ausbauen helfen. Strukturwandel organisieren eben.
Der Kohleausstieg reißt alte Wunden auf
Clevere Ansätze für Wertschöpfung in der Region und die Erfahrung, dass aus kleinen Strukturen etwas Großes erwachsen kann, das treibt auch Christian Klämbt um. Zu finden ist der engagierte Sozialarbeiter in einem dynamischen soziokulturellen Zentrum der Lausitz, dem Telux-Gelände in Weißwasser. Auf dem Weg zur früheren Heimstatt eines der größten Glasproduzenten der DDR passiert man ein paar der symbolträchtigen Großstrukturen, von denen sich die Region im Zuge des anstehenden Strukturwandels nun verabschieden soll: das gigantische Kohlekraftwerk Boxberg, eine der größten CO2-Schleudern Europas, und den riesigen Tagebau Nochten, der bis an die Stadtgrenzen von Weißwasser reicht. Hier feuert Deutschland die Klimakrise mit an. Die Bundesregierung kommt gar nicht um die Anordnung des Strukturwandels in der Lausitz herum, denn mit dem Pariser Klimaabkommen hat sich die Bundesrepublik 2015 völkerrechtlich zur massiven Reduktion ihrer Treibhausgase verpflichtet. Es ist Eile geboten.
Und dennoch reißt die Tatsache, dass schon 2030 Schluss sein könnte mit 150 Jahren identitätsstiftender Kohlekultur, im Innern der Lausitz bei vielen alte Wunden auf. Über Jahrzehnte war die Lausitz, gelegen zwischen Elsterwerda im Westen und Bad Muskau im Osten, zwischen Königs Wusterhausen im Norden und Zittau im Süden, eine Zuzugsregion. Nicht nur im Kohlesektor bot sie angesehene Arbeitsplätze, sondern auch in der Textil-, Stahl- und Glasindustrie. In Städten wie Hoyerswerda oder Weißwasser entstanden mit den großen damals sehr modernen Plattenbau-Siedlungen ganze Lebenswelten neu. Dann die gewaltige Schockwelle: In den Umbruch-jahren der Wendezeit brachen zehntausende Arbeitsplätze weg; unzählige Menschen, vor allem junge, zogen in die Ballungsräume und westlichen Bundesländer. Seit 1990 hat die Region knapp ein Fünftel ihrer Bevölkerung verloren. Noch ist der Trend nicht umgekehrt; weitere acht Prozent Rückgang werden erwartet. Kein Wunder, dass der politische Beschluss für das endgültige Aus eines ganzen Industriesektors über viele als eine zweite Schockwelle rollt. Betroffen sind rund 8.000 Arbeitsplätze in der Bergbau- und Energiewirtschaft und rund 16.000 Arbeitsplätze in der Service- und Zulieferindustrie.
Deshalb versucht die Politik jetzt den großen Wurf: mit 17 Milliarden Euro Strukturwandelförderung für die Region, der Lausitzrunde der Bürgermeister, Beauftragten für Strukturentwicklung, Strategiepapieren. Alles wichtig, aber eben nicht genug. „Die Erfahrungen der Wendezeit sind noch gar nicht aufgearbeitet“, bestätigt auch der ehemalige DDR-Heimerzieher Christian Klämbt beim Treffen in Weißwasser. Der Bevölkerungsschwund von 40.000 auf 15.000 in der Stadt, die Erfahrung massiver Arbeitslosigkeit, das Gefühl, quasi über Nacht ein System übergestülpt zu bekommen, in einem zu hastigen Prozess ohne echte Mitbestimmung – der Frust sitzt tief und prägt ganze Familienbiografien. Bis heute. „Dann kam die Entscheidung zum Kohleausstieg“, sagt Klämbt. „Und all das vermengt sich jetzt zu einer ziemlich diffusen Diskussion.“ Die unter anderem dazu führt, dass Tino Chruppalla mit fast 35,8 % der Erststimmen hier 2021 schon zum zweiten Mal das Direktmandat für die AfD gewinnen konnte.
Sozialarbeiter Christian Klämbt und seine Kolleginnen und Kollegen haben seit 2015 ein vielfältiges Begegnungszentrum inklusive Gründerkultur geschaffen.
„Ein wirklich partizipatives Haus“
Umso wichtiger zu erkennen, was diese Wunden heilen hilft und gleichzeitig Strukturen schafft, die die Region und ihre Menschen in die Zukunft tragen. Seit 2015 entwickelt der Mobile Jugendarbeit und Soziokultur e.V. Teile der alten Telux-Glasfabrik. Wenn nicht gerade Corona den Betrieb ausbremst, gibt es hier jedes Wochenende Programm: Musik, Theater, Poetry-Slam, mal in der „Hafenstube“ im schicken Industriedesign, mal in einer der mehr oder weniger sanierten Fabrikhallen. Mit einem Kulturmobil bringt der Verein Kino, Musik und 3-D-Drucker auch in ländlichere Regionen. Weiteres ist in Planung: ein Jugendclub, eine Skaterbahn, eine Sommerbühne. „Unser Ansatz besteht darin, ein wirklich partizipatives Haus zu sein“, erklärt Christian Klämbt. „Wir sagen, wenn ihr mit einer Idee kommt: Ja, wie können das begleiten, es bleibt aber euer Projekt!“ Oder anders ausgedrückt: „Wir kümmern uns um die Faktoren, die Menschen hier halten.“ Das ist es, was Zivilgesellschaft kann: Erfahrungen von Selbstwirksamkeit schaffen, eine positive Identifikation mit der eigenen Stadt und mit der Lausitz bewirken.
Und das wirkt. „Das Telux ist ein fruchtbarer Boden, hier ist eine Gründerkultur entstanden“, sagt Klämbt stolz. Mittlerweile ist das Amt für Denkmalschutz eingezogen, eine Firma, die Tiny Houses baut, das Landratsamt und viele mehr. Die Strukturimpulse des Vereins wirken auch über das Gelände hinaus. Klämbt hat mit seinen Kollegen eine professionelle Holzwerkstatt eingerichtet, CNC-Fräsen organisiert, 3-D-Drucker, PCs, und einen Industriedesigner, der nun für jeweils ein halbes Jahr sechs Jugendliche an den Maschinen fortbildet. Mit Erfolg: Die ersten Jugendlichen haben so auf unkonventionellem Weg nicht nur Motivation und Interesse fürs Handwerk gefunden, sondern auch ihren Ausbildungsplatz bei Firmen, die das neue Know-how und Fachkräfte suchen. Wieder ein kleiner Anstoß für die regionale Wirtschaft, den inzwischen auch das Jobcenter mitträgt.
Begegnungen zwischen alten DDR-Platten
Ein paar alte geflutete Kohletagebaugruben weiter südwestlich gibt es mit der Kulturfabrik Hoyerswerda einen ganz ähnlichen Ort, der zum Mittun einlädt. Hier trifft man Uwe Proksch, der selbst noch im Tagebau lernte, bevor er in den 80ern Leiter eines Jugendclubs wurde. Für seine Vision eines lebendigen Hoyerswerda legt sich der Geschäftsführer des Kulturfabrik e.V. seit mehr als einem Viertel Jahrhundert ins Zeug, organisiert mit seinem 10-köpfigen Team und zahlreichen ehrenamtlichen Vereinsmitgliedern Konzerte, Lesungen, Kino, Ausstellungen, Begegnungen auf der grünen Wiesen zwischen den alten DDR-Plattenbauten. Stellt einen Theaterboden zur Verfügung, Workshopräume, Schnitttechnik für Filmprojekte, einen Proberaum. Ermutigung und Netzwerkkontakte inklusive.
Was Uwe Proksch tut, tut er schon lange und erreicht damit, dass Menschen Kultur und Gesellschaft mitentscheiden, mitgestalten, mittragen. „Für Hoywoy ist entscheidend, dass wir Zuzug generieren, die Stadt wird sonst wegsterben.“ Ein drastischer Satz. Was sich im Zuge des aktuellen Kohleausstiegs ändere? „Wir müssten was von den Milliarden von der Bundesebene abbekommen. Es muss doch auch darum gehen, die vorhandenen Strukturen zu stärken.“ Zumal Orte wie die „Kufa“ immer durch ein hohes Maß an Selbstausbeutung aufrechterhalten würden.
Der Transformationsprozess umfasst alles
Die Zivilgesellschaft macht viel und will mehr machen. Aber allzu oft fehlt das Geld. Zum Beispiel bei Astrid Riechmann, deren Stelle beim Willkommen in Bautzen e.V. wieder nur bis Jahresende läuft und deren Verein aktuell noch Sprachkurse für Geflüchtete, nicht aber mehr wie noch vor ein paar Jahren die Begleitung der Ankommenden finanzieren kann. Gegründet wurde der Verein aus dem Bündnis „Bautzen bleibt Bunt“ heraus. „Zur Zeit engagieren sich über unseren Verein 40 Paten für rund 240 Menschen“, erzählt die ehemalige Ingenieurin aus der Halbleiterindustrie. „Die Paten versuchen zum Beispiel, ihre Leute als Krankenschwestern unterzubekommen und müssen dann feststellen: Die haben mit Kopftuch in diesem ganzen nach rechts gedrifteten Umfeld nicht einmal die Chance, eine Praktikantenstelle zu bekommen.“ Das mache sprachlos. Und es zeigt: Die Förderung von Toleranz gegenüber anderen Kulturen, gegenüber Neuem, Ungewohnten, auch das braucht es, damit Menschen nicht verbittern, wenn Strukturen sich wandeln.
Und noch mehr macht Astrid Riechmann sprachlos: Wenn Migrantinnen und Migranten, die sich über drei, vier Jahre gut in einem Unternehmen eingearbeitet hätten, bedingt durch das bestehende Migrationsrecht wieder gehen müssten. „Hier kollidieren die Bedarfe im Fachkräftemangel, unter anderem in Handwerk, Pflege und Gastronomie, mit der Art, wie in Deutschland Migration organisiert wird.“ Beim Besuch in Astrids Riechmanns engem Büro in der Bautzener Altstadt stolpert man gleich über einen ganzen Stapel dicker Bretter, die zu bohren sind.
„Der Strukturwandel in der Lausitz ist sehr komplex.“ So hatte das Anja Nixdorf-Munkwitz im Zittauer Salzhaus auf den Punkt gebracht. Man müsse irgendwie versuchen, überall dabei zu sein, ob es um die Verteilung der Mittel aus dem Strukturwandelfonds gehe, um die Vergabe von EU-Mitteln für den ländlichen Raum, um Entscheidungsstrukturen, oder oder oder. Denn der Transformationsprozess, der seit den 1990er Jahre in Gange ist und durch den Kohleausstieg an Dynamik zugelegt hat, umfasst eben alles: Wirtschaft, Sozialstrukturen, Kultur, Politik, Verwaltung. Da braucht es viele, das zu bewältigen.
Also braucht es auch Strukturen, die die Menschen vor Ort befähigen, die hierfür notwendigen Aushandlungsprozesse mitzugestalten. Wie das geht? Indem man Selbstbewusstsein sät, findet die ehemalige Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Bautzen Andrea Spee-Keller, und konzentriert sich deshalb auf die Frauen der Lausitz. „Bislang sind die Diskussionen um den Strukturwandel ziemlich männlich geprägt“, sagt sie. Sei es, dass es vor allem um vorrangig männerdominierte Berufsfelder wie den Bergbau, die Energiewirtschaft oder den Maschinen- und Anlagenbau geht. Sei es, dass der Anteil von Frauen in den sächsischen Gemeinde- und Stadträten durchschnittlich bei gerade einem Fünftel liegt. Deshalb engagiert sich Andrea Spee-Keller für die Plattform „F wie Kraft“ und die Initiative „Frauen.Wahl.LOKAL Oberlausitz“, für das sie ins zweijährige Programm der Neulandgewinner des Thünen-Instituts für Regionalentwicklung augenommen worden ist.
Will vom Milliarden-Kuchen der Bundesregierung etwas abbekommen: Uwe Proksch vom Kulturfabrik e.V. in Hoyerswerda und sein Team sorgen für Leben in der Stadt.
Während die Plattform Frauen vernetzt, Austausch und gegenseitige Inspiration schafft, will die Initiative „Frauen.Wahl.LOKAL Oberlausitz“ Frauen ganz konkret ermutigen, sich kommunalpolitisch zu engagieren und sich 2024 für die Wahl der Gemeinde- und Stadträte aufstellen zu lassen. Andrea Spee-Keller sagt: „Wenn kluge, engagierte Fragen sich einbringen und eben nicht in die Ballungsräume verschwinden, dann gelingt der Strukturwandel auf jeden Fall besser.“
„Partizipation ist als Methode essenziell“
So vielfältig die Anliegen der Zivilgesellschaft sind, eine Konstante trifft man immer wieder auf der Reise durch die Lausitz: die Forderung nach einer Mitgestaltung der anstehenden Transformation. „Partizipation ist als Methode essenziell, wenn erfolgreich transformativ gearbeitet werden soll“, sagt auch Dagmar Schmidt, die in der idyllisch an einem Spreefließ liegenden ehemaligen Kaiserlichen Postagentur in Raddusch gemeinsam mit Kollegen einen Projektraum für nachhaltige Regionalentwicklung betreibt. Hier strickt die Expertin für Organisationsentwicklung und Prozessbegleitung auch an Ideen für mehr Partizipation mit.
Eine davon: Eine Sammlungsbewegung der Zivilgesellschaft muss her. Genau das versucht die 2020 gegründete „Bürgerregion Lausitz“ zu sein. Das Netzwerk will die Ansätze der Zivilgesellschaft sichtbar machen und bündeln, mit dem Ziel, diese dann viel gezielter und mit mehr Bürgerbeteiligung in die Gestaltung der Zukunft der Lausitz einzubringen. „Viele Schmerzen der Lausitz kommen aus den Brüchen der 90er Jahre“, so Dagmar Schmidt. „Da fühlten sich die Menschen abgewickelt. Eine Ohnmacht hat sich in den Menschen manifestiert und eine Angst, was den Wandel angeht. Partizipation ist ein Weg, diesen Schmerz etwas zu heilen.“ Was es hierfür braucht? Mitgestaltung auf Augenhöhe, verlässliche und stabile Finanzierungsstrukturen. Und mehr Vertrauen in die Menschen vor Ort.