Wer die Zukunft sehen will, muss an die Ränder des Realen gehen. Es geht über Kopfsteinpflaster an verfallenen Häusern, Höfen und Holzkreuzen am Wegesrand mit dem Namen Laura darauf vorbei und hinein in ein Dorf, an dessen Laternenpfählen Plakate zur „Bumsparty“ mit DJ Melody einladen. Wer dann noch die Dorfkirche hinter sich lässt, kommt schließlich an. Nicht nur am Rand des Dorfs. Sondern auch an den äußersten Rand Deutschlands. Und an den Rand zu einer anderen Welt.
Rothenklempenow. Nichtgeografen würden vielleicht sagen: in Deutschland ganz weit rechts oben. Polen und die Ostsee liegen in Spuckweite, es gibt ein Schloss im Fachwerkstil, den Fangelturm und sogar ein kleines Heimatmuseum, das von der über 800jährigen Geschichte erzählt – insbesondere von den vergangenen Jahrzehnten, als sich das Dorf Pionierort der DDR nennen durfte und hunderte Menschen hier in der LPG arbeiteten. Heute leben noch gut 600 Menschen hier. „Einige Familien blicken auf eine jahrhundertealte Geschichte allein hier im Dorf zurück“, sagt Tobias Keye und nickt Richtung Dorfstraße. „Sie sind das kulturelle Erbe, auf dem wir hier aufsetzen – ohne es zu ersetzen.“
Wenn man so will, ist Tobias Keye so etwas wie der Zukunftsmacher. Der ehemalige Schauspieler aus Düsseldorf hat sich früh der Nachhaltigkeit verschrieben und kam 2016 für die BioBoden Genossenschaft hierher, die auf dem alten LPG-Gelände ihren Sitz hat. Das noch junge Unternehmen kauft seit seinem Bestehen 2015 landwirtschaftliche Nutzflächen, um sie für die ökologische Bewirtschaftung zu sichern. Mittlerweile sind es über 60 Partnerhöfe, auf denen die Genossenschaft deutschlandweit engagiert ist und sie so auch dem Zugriff von Landspekulanten entzieht. Drei der BioBoden-Höfe liegen hier in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander: Neben dem Betrieb in Rothenklempenow sind das der Haffwiesenhof und das Landgut Seegrund. Insgesamt 2.500 Hektar Land, davon 60 Prozent Weide, 40 Prozent Acker. 1.500 Tiere sind hier zuhause, auf den Feldern gedeihen Getreide, Mais, Kartoffeln und Gemüse. Alles in Bioland-Qualität. Alles Teil einer großen Vision.
Denn BioBoden mit seinen drei Höfen, die sich für eine bessere Vermarktung zur Höfegemeinschaft Pommern zusammengeschlossen haben, sind gleichzeitig Teil und bilden den Rahmen für den „Campus der Kooperationen“, wie Keye den Ort bezeichnet. Bio-Waren erzeugen kann schließlich jeder. Sie aber als Herz zu verstehen, das viele andere Organe versorgt und damit ein neues Lebewesen schafft, können nur die wenigsten. Tobias Keye und seinen vielen anderen Mitstreitern gelingt es.
Wer Keye über den teils heruntergekommenen Hof bis hinein in die Räume der renovierten Gutsanlage begleitet, kann schon einmal den Überblick darüber verlieren über all das, was hier passiert. Da hilft es, einen festen Boden unter den Füßen zu haben, um nicht die Orientierung zu verlieren. Zum Beispiel den Weltacker, gleich hinter der Scheune. Warum er so heißt, ist ganz simpel: Teilt man die globale Ackerfläche von 1,5 Milliarden Hektar durch die 7,5 Milliarden Erdenbewohner, kommt man auf 2000 Quadratmeter, die jedem einzelnen von uns rein rechnerisch zustehen. Auf diesem Weltacker muss also alles wachsen, was jeder von uns zum Leben braucht: Getreide fürs Brot, Reis, Kartoffeln, Obst, Gemüse, Öl, Zucker, aber auch das Futter für die Tiere, von deren Fleisch, Milch und Eier wir uns schließlich ernähren. Ganz zu schweigen von der Baumwolle für die Jeans oder die nachwachsenden Rohstoffe für die Industrie. „Wir wollen den Menschen ein Bewusstsein dafür vermitteln, woher die Dinge kommen, dass unser Planet endlich ist, dass wir sorgsam mit unserem Boden umgehen müssen“, so Keye. „Und wenn wir beginnen, Boden gut zu machen, dann wächst auch etwas Gutes daraus.“
Und das nicht nur in Form von gesunden Lebensmitteln, sondern auch in der Haltung. Für Keye ist der Weltacker Dreh- und Angelpunkt: Hier kommen Schulklassen und Studierende her, um auf ihm zu arbeiten und Zusammenhänge zu verstehen. Hier kommen die Mitarbeitenden der Nachhaltigkeitsbank GLS aus Bochum her, um zu ackern und so ihr Zahlen-Tageswerk mit Leben zu füllen. Und hier kommen jene her, die blauen Mais machen können.
Anna Wertenbroch ist die Gärtnerin von BioBoden und nutzt die Fläche als Experimentierfeld. Das herkömmliche Gemüse zieht sie auf dem Acker oder im selbst mitgebrachten Tunnel hoch, um den Hofladen und die Biokisten für den Lieferservice für die Menschen rund um Rothenklempenow zu bestücken. Aber blauer Mais ist da schon eine andere Liga. „Wir wollen alte Sorten wiederbeleben“, sagt sie, die zuletzt in Köln einen eigenen Gemüsebetrieb geführt hat. „Samenfeste Sorten, die man kaum noch kennt.“ Als samenfest wird eine Pflanzensorte bezeichnet, wenn aus ihrem Saatgut Pflanzen wachsen, die über exakt dieselben Eigenschaften und dieselbe Gestalt haben wie die Elternpflanze. Heißt: Die Sorte kann sich wie früher natürlich vermehren. In Zeiten von Monsanto und Co. ist das eine Seltenheit geworden.
Und einer dieser samenfesten Sorten ist eben der blaue Mais, einer von 200 Mais-Arten insgesamt. Und für Daniel Möhler eine interessante Option. Gemeinsam mit Co-Gründer Carl Eugen Jahke hat Möhler hier auf dem Gelände das Food-Startup Tlaxcalli angesiedelt. Tlaxcalli kommt aus dem Aztekischen und heißt Maisfladen – der Name ist hier also Programm. Das junge Unternehmen mit seinen sieben Mitarbeitenden produziert hier die ersten und einzigen Bio-Tortillas Europas. Und das ziemlich erfolgreich: Waren es 2017 noch acht Tonnen, sind es zwei Jahre später schon zwanzig.
Verkauft werden die Fladen insbesondere in Gastro- und Delikatessläden Berlins, aber zunehmend auch in ganz Europa, vor allem in Lissabon, wo Möhler zu einer Verkostung war – die Qualität der Tortillas haben sich herumgesprochen. Und nicht nur dort. „Wir bekommen Emails von vielen Mexikanern in Deutschland, die unsere Produkte haben wollen“, so Möhler. Ein echtes Kompliment.
Das kommt nicht von ungefähr. Möhler war nach viereinhalb Jahren in den USA dreieinhalb Jahre in Mexiko, wo er eine Bäckerei in Mexiko-Stadt betrieb. Er weiß also sehr genau, wie man Original-Tortillas macht. Und was man dazu braucht. Zum Beispiel das „Biest“. Die Maschine haben sie eigens aus dem mittalamerikanischen Land importiert, hier wird der Mais gekocht, in einer Vulkansteinmühle zu Teig gemahlen, geformt und auf befeuerten Eisenplatten gebacken. Jeden Tag frisch. Das ist besonders. „Wenn man so will, ist unser Verfahren wie Sauerteig machen im Gegensatz zu Toast herstellen“, sagt Möhler. Was er damit meint: Durch die besondere Herstellung werden Proteinketten aufgespalten und so leicht verdaulich gemacht, der Körper kann andere Nährstoffe leichter aufnehmen, und ganz nebenbei wird das Produkt natürlich haltbar gemacht. Kein Wunder also, dass Tlaxcalli schon den „Next-Organic-Award“ gewinnen konnte.
Und warum sind sie nun ausgerechnet hier? Im letzten Winkel der Republik? „Der Mais hier ist der beste“, sagte Möhler und lässt Tobias Keye strahlen. Die Sorte Padrino von den Feldern in Rothenklempenow hat in einer Blindverkostung gewonnen, da war es klar, dass man sich dem Projekt hier anschließen wollte. Und nicht nur wegen des Mais’. Auch die Vision des Orts war ein Pluspunkt. „Mais ist eine erstaunliche Pflanze“, so der Gründer. „Sie kann die Antwort auf die Frage sein, wie wir den Hunger bekämpfen können.“ Denn: „Mais wächst überall und wie verrückt.“
Die perfekte Rohware also für ganz neue Ideen. Man könnte die Pflanze auch auf andere Gebiete transferieren, so Möhler. „Den Mais-Abfall, also die äußere Schale, könnte man zur Herstellung von Bio-Plastik nutzen“, erklärt er. „Das kalziumhaltige Wasser, das in der Produktion entsteht, könnte auf den Feldern als natürlicher Dünger ausgebracht werden.“
Nichts verschwenden, schonend mit den Ressourcen umgehen, vermeintliche Abfälle für Neues nutzen, in Kreisläufen denken – das ist her die gemeinsame Haltung. „Wir arbeiten hier an einer neuen Landwirtschaft, die vom Boden bis auf den Teller bis in den Körper denkt“, sagt Keye. Und wo man eben auch herumexperimentieren kann. Stichwort: der blaue Mais. Die ersten Samen vom Weltacker haben es schon auf zwei Hektar geschafft – im kommenden Jahr wird Tlaxcalli also ein neues Produkt auf den Markt bringen. „In Zukunft werden wir weitere Maissorten ausprobieren“, so Möhler. Der Vorteil, den sie hier haben: Sie können gemeinsam mit anderen auf Zuruf einfach mal ausprobieren.
Das ist nicht nur bei Tlaxcalli so. Auch das andere Food-Startup Lunch Vegaz von Gründerin Govinda Thaler profitiert von der gemeinsamen Haltung, dem gemeinsamen Standort, der gemeinsamen Vision. Lunch Vegaz mit seinen elf Mitarbeitenden produziert fertige Bio-Gerichte komplett ohne Konservierungsstoffe und Geschmacksverstärker. Für die bis zu 30-tägige Haltbarkeit werden die Gerichte lediglich vakuumisiert – was den Vorteil zum Beispiel gegenüber Tiefkühlkost hat, dass die wertvollen Inhaltsstoffe erhalten bleiben. Die Rohwaren kommen – natürlich – von den Feldern direkt vor der Haustür.
Und so ließe sich die Liste noch weiter und weiter und weiter fortsetzen. Sechs neue Startups stehen in den Startlöchern, außer dem Weltacker soll es bald die Weltweide und den Weltwald geben, auch eine Tinyhouse-Siedlung soll entstehen, ebenso wie eine Gaststätte und eine Brauerei fürs gesamte Dorf. Ach ja, und das RCE Stettiner Haff hat hier seinen Sitz, also das Regional Centre of Expertise, ein regionales Kompetenzzentrum für Bildung für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen Universität, aus dem nun Stipendien im Rahmen des Projekts ResidenZukunft vergeben werden an Menschen, die an einer neuen Landwirtschaft arbeiten wollen.
„Wir sind eine Modell-Werkstatt für die Gesellschaft von Morgen“, sagt Tobias Keye. Gemeinsam mit den Bewohnern des Dorfs und der Umgebung wollen sie hier eine neue Form des Zusammenlebens erproben, in dem eine ökologische Landwirtschaft auch Mittel zum Zweck für mehr Gemeinschaft, mehr Miteinander, mehr gegenseitiger Verantwortung bietet. Im Sommer gehen sie zusammen im nahegelegenen See schwimmen, spielen Fußball, sitzen am Lagerfeuer. Bei alldem nehmen sie die Menschen vor Ort mit – und das auf eine ernste und empathische Weise: Sie bauen auf ihr Wissen, auf ihre Erfahrung, auf ihre Geschichte. „Die Menschen fühlen sich hier normalerweise nicht gesehen“, glaubt Keye. Man müsse ihnen wieder wertschätzend begegnen und motivierend mit in eine andere Zukunft nehmen. Das klappt nicht bei allen, die Skepsis gegenüber den „Öko-Freaks“ ist noch hoch. Doch es werden immer mehr – und es sind nicht nur die jungen Leute, die sich dem Experiment von Tobias Keye öffnen. „Die ehemalige LPG-Chefin ist unsere treueste Anhängerin“, erzählt er.
Das war nicht immer so. Als BioBoden sich hier ansiedelte, gab es schnell Gerüchte, dass irgendwelche Wessis wieder nur „fette Geschäfte“ machen wollten, diesmal mit Bio-Lebensmitteln, was ja ohnehin alles „Beschiss“ sei. Das hat sich verändert. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer sind die gegenseitigen Vorurteile zwar auch hier in Rothenklempenow noch zu spüren. Aber sie werden jeden Tag kleiner. Man hat hier den Eindruck, dass die Menschen aus West und Ost an einer wirklichen Einheit arbeiten, an einer gemeinsamen Zukunft. Nach dreißig Jahren und viel Frust ist etwas auferstanden aus den Ruinen. Hier, am Rande der Republik.