Bollewick gilt als Paradebeispiel für eine erfolgreiche Entwicklung im ländlichen Raum. Dutzende Politiker waren schon hier, sogar das niederländische Königspaar. Also alles gut? Davon sind sie weit entfernt. Denn Stillstand ist der Tod.
Die Scheune ist, man kann es kaum anders sagen, der Hammer. 125 Meter lang, ein Hektar nutzbare Fläche. Der 130 Jahre alte Feldstein-Bau ist wunderschön restauriert, beherbergt nette Läden und prächtige Veranstaltungsräume. Und sie hat das Dorf Bollewick in einer Spezialdisziplin berühmt gemacht: die größte Feldsteinscheune Deutschlands – bis zum Beweis des Gegenteils. Im Sommer war das niederländische Königspaar zu Besuch, weil die Botschaft in Berlin genau Bollewick als perfektes Ziel für die Monarchen und ein großes Medienaufgebot ausgemacht hatte.
Da kann man doch ein wenig stolz sein, als Bollewicker? „Die Scheune“, sagt Bertold Meyer, ehrenamtlicher Bürgermeister von 1991 bis zum Mai 2019, „muss dringend weiter entwickelt werden.“ Seine Nachfolgerin Antje Styskal wird noch deutlicher: „Da müssen wir richtig ausmisten. Das ist eine Touristenattraktion, aber wir wollen mehr. Da muss mehr Leben rein.“
Wer das Geheimnis hinter dem Erfolg der Vorzeige-Gemeinde Bollewick ergründen will, findet hier vielleicht eine Antwort. Sie werden landauf, landab beneidet um die Scheune und viele andere Errungenschaften – gerade wird ein dritter Kindergarten eröffnet, wo andere den letzten schließen müssen. Aber sie sind nicht zufrieden.
Bertold Meyer und Antje Styskal sind ein Team, das sich ergänzt, als wäre es für diese Doppelrolle gecastet worden. Er denkt in großen Linien und langfristigen Projekten, er mag Zahlen und weiß, wie man Fördermittel an die richtige Stelle leitet. Meyer widmet sich mit aller beachtlichen Kraft dem Thema Energiewende, genauer: den Chancen der Bioenergie im ländlichen Raum. Sie ist eine leidenschaftliche Netzwerkerin mit Überzeugungskraft und will dringend jüngere Menschen für die Dorfpolitik interessieren. Styskal nimmt sie einfach an die Hand: „Entscheidend ist, dass man die Leute mitnimmt.“ Die neue Bürgermeisterin führt im ersten Stock der Scheune eine Naturheilpraxis mit „Traditioneller Chinesischer Medizin“, für ein Mecklenburger Dorf wohl erstaunlich erfolgreich: „Wenn ich einem helfen kann, kommen ganze Familien hinterher.“ Genau so muss man sich auch den Mechanismus der Dorfpolitik vorstellen.
Meyer und Styskal beteuern, jeweils froh um den anderen und seine besonderen Stärken zu sein. Ein gutes Binnenverhältnis ist wichtig, wenn man so viel vorgezeigt wird wie Bollewick: „Wir sind in Mode gekommen“, sagt Meyer. Bundesminister zeigen sich gern vor der Scheune (Backhaus 2012, Aigner 2013, Gabriel 2015 und so fort), holen sich aber nicht automatisch Applaus ab. „Ich rate jedem, sich nicht auf die Versprechungen der Politik zu verlassen“, sagt Meyer. Antje Styskal ist wieder einmal direkter: „Heiße Luft, mehr nicht.“
Bollewick ist nicht schön, nicht einmal die gigantische Scheune selbst. Im touristischen Sinne hübsch ist es fünf Kilometer weiter, in Röbel und weiter an der Müritz. Aber Bollewick ist erfolgreich. Ein Bio-Energiedorf (siehe Text S. 27), eine wachsende Gemeinde (von 450 auf über 600 Einwohner). Dem Dorf gehören neben der Scheune – mit Hotel, Restaurant, einer Kerzen-Manufaktur und mehr – weitere Gebäude, in den „Landwerkstätten“ gegenüber arbeitet die Bio-Fleischerei Thönes, nebenan wird eine Käserei einziehen.
Sie haben ein dichtes Netz gewoben, mit Unternehmen, Projekten, wissenschaftlicher Begleitung (Text auf S. 28) – so stabil, dass ein Scheitern einzelner Teile nicht mehr das Ganze gefährden würde. Viele Auszeichnungen stellten sich ein, dabei wollen die Bollewicker gar nicht als Muster-Dörfler und Besser-Könner gelten. „Man kann sowieso nichts kopieren“, sagt Meyer, „jedes Dorf ist anders.“
Doch zurück zur Scheune, mit der alles anfing. 1990, als bald nach der Wende die LPG zumachte, sprach nicht viel für Bollewick. Meyer kann bildreich erzählen, wie der Gestank der Gülle den Ruf und den Alltag des Dorfs verpestete. Dann sprengte das ungetüme Bauwerk den Gemeinderat, weil viele glaubten, das Ding bedeute den sicheren Ruin der Gemeinde. In den 90ern brauchten hunderte ABM-Kräfte Jahre, um das Dorf aus einem Sumpf von Gülle herauszuwühlen, den 650 Kühe zu DDR-Zeiten erzeugt hatten. Dabei wurde es zum Symbol für Zusammenhalt und Aufbau.
1994, die maroden Kabel hingen noch aus den Wänden, kamen 6.000 Besucher zu einem Kunsthandwerkermarkt – da war klar, dass die einstige Altlast jetzt, modern gesprochen, ein „Asset“ ist. Ein industrielles Gebäude, wie es auch in Hamburg-Altona oder Berlin-Friedrichshain stehen könnte. Was im Vergleich dazu fehlt, ist eine junge, dynamische Start-up-Szene. Genau das haben sie jetzt im Blick. „Junge, kreative Zellen“, möchte Antje Styskal anlocken, es könnte um die Digitalisierung der Landwirtschaft gehen, oder auch um Meyers großes Thema, die Bio-Energie.
Nicht gleich nach dem Himmel greifen
Ein weiterer Slogan, den sich Bollewick zu eigen macht, heißt „Garten der Metropolen“. Interpretiert mit Blick nach Berlin, Hamburg und Stettin: hier, auf dem Land, werden für die Städte Lebensmittel produziert und Erholungsräume geschaffen. Unter welchen Bedingungen, ist eine brisante Frage, denn die industriell geprägt Landwirtschaft gerade in Mecklenburg-Vorpommern lässt den Dörfern wenig Spielraum für eine eigene Wertschöpfung. Im Dorfladen der Scheune lokal produzierte Lebensmittel anzubieten, ist nicht so einfach, Fleisch und Käse aus den Landwerkstätten sind nur ein Anfang. Es bleibt also genug zu tun.
Wie also haben sie es gemacht in Bollewick, dass aus einer stinkenden „Altlast“ ein prosperierendes Dorf erwachsen ist? Bertold Meyer zählt drei Grundtugenden auf: „Ideen, Mut, Hartnäckigkeit. Wenn Politik klug arbeitet, unterstützt sie diese Eigenschaften.“ Und bei der Methodik könne man tatsächlich ein Beispiel geben: „Step by Step. Aufräumen, mit kleinen Erfolgen immer voran. Nicht gleich nach dem Himmel greifen, sondern auf den nächsten Schritt konzentrieren.“
So soll es weitergehen in dem Dorf, das nach der Vermutung des Bürgermeisters das jüngste weit und breit ist. „Die 30- bis 40-Jährigen fehlen uns“, hat Meyer beobachtet, „aber die Jüngeren engagieren sich wieder, das macht Hoffnung.“
Aber zufrieden, das sind sie trotzdem nicht.
Raimund Witkop