Der Mann hat den Überblick. Nicht nur aufgrund seiner Körpergröße und Expertise, sondern allein auch wegen seines Arbeitsplatzes im fünften Stock eines Bürogebäudes mit Blick über den Hamburger Hafen. Und nicht nur über den. Prof. Dr. Henning Vöpel, zum Zeitpunkt des Interviews noch Direktor des renommierten Hamburger WeltWirtschaftsInstituts (HWWI), schaut aus dem Fenster des Konferenzraums auf die Baustelle direkt zwischen dem Gebäude und einem Seitenarm der Elbe, wo die neue Factory.Hammerbrooklyn ihren Sitz gefunden hat, eine Art Innovationsschmiede für Unternehmen, Start-ups und Wissenschaftler. „Wir sind bald fertig“, sagt er und man sieht ihm die Freude an. Das ist kein Wunder, schließlich gehört Vöpel zu den Mitinitiatoren und Mitgründern des neuen Inkubators. Die Zukunft bauen, darum geht es ihm. Und das eben nicht nur in Hamburg.
Herr Professor Vöpel, sie sind als Wirtschaftsexperte gefragt und arbeiten in Hamburg. Haben die Mitglieder im Zukunftsrat nicht gestutzt, dass jemand außerhalb des Bundeslandes den Vorsitz haben sollte?
Henning Vöpel: Vielleicht ein wenig. Aber die Staatskanzlei hat neben mir mit Frau Tanneberger gleich jemanden in den Vorsitz berufen, die ausgewiesene Kennerin Mecklenburg-Vorpommerns ist. Für mich war es ein spannender Prozess, in ein Land einzutauchen, das man selbst nur am Rande kennt.
Im wahrsten Sinne, gebürtig kommen Sie aus Büchen, direkt an der ehemaligen innerdeutschen Grenze.
Ja. Deshalb habe ich gebeten, mich nicht als klassischen Hamburger wahrzunehmen, denen man ja auch mit gewissen Vorurteilen begegnet. Ich komme vom Land und bin sozusagen um die Ecke aufgewachsen.
In Ihrem letzten Buch „Disruption: Neuvermessung einer verrückten Welt“ schreiben Sie, dass die Welt in einem Übergang in eine neue Ordnung sei. Sind die Ergebnisse des Zukunftsrates so etwas wie ein Modell für diese neue Welt?
Es ist der Versuch, das Modell tatsächlich einmal herunter zu brechen. Wir erleben so große Umbrüche, dass es nicht mehr reicht, nur die Symptome zu behandeln. Wir haben es mit tektonischen Bewegungen zu tun, bei denen sich ganz viel zueinander verschiebt. Weil sich das auf der Ordnungsebene abspielt, müssen wir die Grundprinzipien der Dinge, wie wir sie organisieren, grundlegend verändern. Das ist nicht mit einem Gesetz getan.
Sondern?
Die Zusammenhänge verändern sich. Wir haben es mit globalen und zeitlich sich überschneidenden Phänomenen zu tun, weshalb der gesellschaftliche Zusammenhalt zwischen den Generationen viel wichtiger wird. Das heißt, die Aufgabe für Demokratien ist künftig eine ganz andere: Es geht nicht mehr nur darum, in einem abgegrenzten Raum die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen, sondern auch immer um die Auswirkungen auf die nächste Generation und die Welt insgesamt. Wir treffen heute als alternde Gesellschaft Entscheidungen, die zulasten der nächsten Generationen gehen. Diesen Punkt haben wir im Rat adressiert durch Klima-Maßnahmen und Vorschläge zu einer stärkeren Beteiligung von Jugendlichen. Das Verfassungsgericht hat ja jüngst angemahnt, auch die Freiheit noch ungeborener Generationen zu schützen.
Wie beurteilen Sie die Umsetzung dieses Verfassungs-Auftrags durch die Politik?
Die Politik versucht, dem irgendwie nachzukommen, aber die Ansätze reichen nicht weit genug. Deshalb haben wir im Zukunftsrat versucht, die Einsicht, dass wir es mit großen Veränderungen auf der Ordnungsebene zu tun haben, in politische Weichenstellungen zu übersetzen, die dem Ausmaß der Umbrüche gerecht werden.
In dem Bericht malen Sie Zukunftsbilder für das Jahr 2030. Darin heißt es etwa: Zur Einschulung bekommt jedes Kind einen Obstbaum und ein Öko-Wertpapier geschenkt, in Dorfwerken entstehen solidarische Formen des Wirtschaftens, Mecklenburg-Vorpommern ist Teil einer grünen Hanse. Wieviel Realität steckt in dieser Utopie?
Wir haben uns bewusst entschieden, die Zukunftsbilder auch in diesem Detaillierungsgrad aufzuschreiben, weil man ein Gefühl dafür bekommen muss, wie sich die Facetten des Lebens konkret verändern. Dass man nicht nur sagt: In Zukunft werden wir klimaneutral sein, sondern wirklich beschreibt, was das konkret für Familie, Beruf, Mobilität, Einkaufen und so weiter heißt. Wie sieht ein Tag im Jahr 2030 aus? Und da wird es natürlich ein bisschen utopisch, aber konkrete Imagination zu entwickeln ist wichtig für utopische Realitäten.
Wie groß ist die Hoffnung, dass die Weichenstellungen nun so gestellt werden, dass wir 2030 in Teilen tatsächlich da ankommen, wo der Zukunftsrat gedanklich bereits ist.
Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass die Arbeit des Zukunftsrats kein Alibi-Prozess war. In den Gesprächen mit Ministerpräsidentin Manuela Schwesig und den Verantwortlichen in der Staatskanzlei habe ich den Eindruck gewonnen, dass man dort die große Chance erkannt hat, das eigene Land mit einem mutigen Zukunftsentwurf neu zu positionieren.
Glauben Sie nicht, dass die Beharrungskräfte des Faktischen zu stark sind?
Der Status quo hat immer enorme Beharrungskräfte. An seinem Erhalt hängen immer auch mächtige Interessen. Dass sich der Erfolg ja immer zu verteidigen versucht, sehen wir zum Beispiel hier in Hamburg, wo wir uns manchmal einreden, ein paar Dinge zu verändern würde ausreichen, damit es weiterläuft wie bisher. Ich habe der Staatskanzlei in Schwerin immer wieder gesagt, dass das Land die große Chance hat, die Umbrüche radikaler zu interpretieren, die Dinge grundlegender zu verändern und rechtzeitig zu handeln.
Haben Sie sich politisch instrumentalisiert gefühlt?
Nein, zu keinem Zeitpunkt, man hat uns wirklich machen lassen. Das hätten die Mitglieder des Zukunftsrates, die aus sehr unterschiedlichen Perspektiven auf das Land blicken und allesamt unabhängige Persönlichkeiten, auch nie zugelassen. Ich fand es ganz spannend, dass man mit dem Rat versucht hat, außerparlamentarische und -ministerielle Arbeit bewusst in politische Zukunfts-Entscheidungen zu integrieren. Damit hat das Bundesland sicher eine Vorreiterrolle.
Wie war die Resonanz auf den Abschlussbericht?
Die Ministerien haben ihn kommentiert und überwiegend wohlwollend aufgenommen, genauso wie die Zivilgesellschaft. Dem Rat war es ganz wichtig, Transformation als einen Prozess zu verstehen, der breit getragen wird. Die große Botschaft des Zukunftsprogramms ist die Tatsache, dass sehr viele unterschiedliche Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Bereichen den Bericht im Konsens entwickelt haben. Und immerhin gibt es bereits erste Sofortmaßnahmen, die umgesetzt werden.
Welche sind das?
Das sind zwei. Es gibt ein Maßnahmenkonzept, um die Landesverwaltung klimaneutral zu machen. Und das zweite ist die Wasserstoff-Transferstelle in Rostock. Natürlich gäbe es auch ambitioniertere Punkte aus dem Programm, die man sich hätte vornehmen können. Aber uns war wichtig zu sagen: Beginnt jetzt! Und dieses Signal ist aufgenommen worden.
Werden die Ergebnisse eine Art Auftrag für die neue Regierung sein?
Nein. Aber es gibt Hinweise, dass man das Programm als Grundlage und Inspiration für viele Vorhaben nehmen will. Das hängt natürlich am Ende davon ab, welche Regierung dafür dann legitimiert ist, aber die Vertreter der jetzigen Regierung zumindest haben die Absicht geäußert, das Zukunftsprogramm immer wieder für ihre Arbeit heranzuziehen.
Und wenn das nicht passiert?
Die Mitglieder des Zukunftsrats wollen unabhängig von den Wahlen auch selbst dafür sorgen, dass die Ergebnisse überall in der Gesellschaft ankommen. Das Papier ist zum Beispiel schon in einer Schule diskutiert worden und es gab Anfragen aus Brüssel, weil ja die ländlichen Regionen und deren Entwicklung dort stark im Fokus stehen. Aber wir wollen es noch stärker in die Breite bringen, auch in die Handelskammern und Wirtschaftsverbände.
Ist die Wirtschaft angesichts der vielen Nachhaltigkeits-Forderungen nicht eher reserviert?
Das Papier ist ja nicht wirtschaftsfeindlich. Nachhaltigkeit geht nie gegen die Wirtschaft, es geht nur mit ihr. Umgekehrt weiß man aber auch: Wirtschaft geht niemals gegen Nachhaltigkeit. Deshalb ist die die Offenheit dort sehr groß.
Ist diese Offenheit in Mecklenburg-Vorpommern insgesamt höher als in den alten Bundesländern?
Das habe ich so wahrgenommen. Dort ist eine unglaubliche Bereitschaft zur Veränderung, die man tatsächlich ganz oft bei jenen findet, die den Wandel als Chance begreifen und nicht als Bedrohung. Und die Chance ist, das jetzige Zeitfenster für Veränderung zu nutzen, um wirklich voranzukommen. Diese Offenheit habe ich überall in Mecklenburg-Vorpommern gespürt, weshalb die Voraussetzungen dort enorm gut sind.
Offenheit allein reicht aber sicher nicht aus. Das Bundesland gehört zu den wirtschaftlich schwächsten in Deutschland.
Ja, aber die Umbrüche, die wir erleben, spielen Mecklenburg-Vorpommern in die Karten, das passt sehr gut zu dem, was wir an spezifischen Voraussetzungen in dem Land haben: Wir haben die Dezentralität der 6.000 Dörfer, wir haben die natürlichen Ressourcen, die reiche Natur und Weite des Landes, die plötzlich einen Wert für den Erhalt des Klimas und der Biodiversität darstellen.
Was meinen Sie?
Was vorher vielleicht eine Schwäche war, wird jetzt zu einer Stärke, eben weil sich plötzlich der Blick auf die Welt verändert hat. Plötzlich können wir Ressourcen wie zum Beispiel die Moore anders nutzen – auch wirtschaftlich, wenn sie als CO2-Speicher genutzt werden. Oder die 6.000 Dörfer, die sich durch digitale Möglichkeiten zu lernenden und kooperativen Netzwerken zusammenschließen, die ihre gemeinsamen Ressourcen, ihr Wissen und ihre Erfahrungen optimal nutzen. Deshalb glaube ich, dass die Umbrüche genau zur Spezifität der Ressourcen in Mecklenburg-Vorpommern passen. Gepaart mit der Mentalität, das als Chance zu begreifen, ist jetzt vieles möglich.
Hat diese andere Mentalität auch mit einer, vielleicht bedingt durch die Wiedervereinigung, höheren Transformationsbereitschaft zu tun?
Ja, auch wenn im Rat immer die Ambivalenz betont worden ist, dass die Wiedervereinigung auch Enttäuschungen produziert hat und jetzt auch Angst und Skepsis vor den bevorstehenden Veränderungen herrschen. Aber natürlich sind für Transformation immer auch Pragmatismus und Realitätssinn nötig. Schließlich sehen wir ja gerade auf dem Land, dass die Lebensrealitäten andere sind als in den urbanen Bubbles. Man kann nicht einfach von heute in einen völlig anderen Zustand von morgen springen. Entlang einer Transformation haben Leute zu Recht den Anspruch auf einen Job, auf Einkommen und junge Menschen auf Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Das muss alles gleichzeitig aufrechterhalten und mitgedacht werden. Aber ich glaube, je eher und konsequenter wir den Wandel angehen, umso eher können wir das sicherstellen. Wer zu spät kommt, verspielt die Zukunft.
Sind Sie optimistisch, dass diese wirtschaftlichen Stabilisierungsanker in der Transformation bewahrt werden können?
Wir haben gar keine Wahl, es muss gelingen. Mehrere Treiber haben eine Unumkehrbarkeit erzeugt, und das Bewusstsein darüber ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das geht nicht mehr weg. Und das ist auch in der Politik angekommen, man kann heute keine Wahl mehr gegen das Klimathema gewinnen. Ich glaube, das gesellschaftliche Narrativ ist mittlerweile so stark, dass die Akzeptanz von Verhaltensänderungen für die Wirtschaft mittlerweile so zentral geworden ist, dass sie das gesellschaftliche Narrativ gerne sogar noch stärker bedienen würde. Deshalb fordert sie von der Politik Planungssicherheit, eine regulatorische Unumkehrbarkeit, um dem gesellschaftlichen Narrativen folgen zu können. Es gibt schon viel stärker einen gesellschaftlichen Konsens als einen Konflikt.
Als einen Baustein gegen den Klimawandel fordern Sie in dem Papier die Etablierung und Förderung von CO2-basierten Regionalwährungen. Was ist das?
Ich komme ja von der Forschung aus der Währungstheorie und Geldtheorie, und persönlich bin ich extrem skeptisch, was solche Regionalwährungen angeht. Aber ich verstehe, was der Hintergrund für diese Art von Forderung ist: Man spart CO2 ein, unterstützt damit das Gemeinwohl und man möchte, dass solch eine Aktivität einen Tauschwert bekommt. Hier war die Idee, dass jemand, der die Natur schützt oder fürs Gemeinwohl arbeitet, eine Währung bekommt, die man tauschen kann, also konvertibel macht zu Währungen, die wirklich Kaufkraft darstellen. Aus meiner Sicht ist das schwierig. Aber die Idee, einen Gemeinwohlwert tauschbar zu machen und ehrenamtliches Engagement einen Wert zu geben, finde ich wichtig.
Viele Engagierte würden sich sicher darüber freuen, wenn sie nicht nur eine Schulterklopfen bekommen, sondern von ihren Gemeinwohl-Aktivitäten leben könnten.
Ja, das ist ein Problem und gehört genau zu dieser Ordnungsebene. Wir befinden uns hier in einem Übergang. Die Wohlfahrt einer Gesellschaft hängt nicht nur davon ab, wie viele private Tauschwerte erzeugt werden, sondern es gibt plötzlich ganz viele Kollektiv-Güter, die für die gesellschaftliche Wohlfahrt eine viel größere Rolle spielen. Aber wie organisiere ich diesen Übergang und wer definiert eigentlich Gemeinwohl? Das haben Gesellschaft und Politik noch nicht gelöst. Vielleicht gibt es in Zukunft tatsächlich einen viel stärkeren öffentlichen Sektor, der sich um ein anders definiertes Gemeinwohl kümmert und die Menschen darin entlohnt.
Als einen zentralen Ankerpunkt für gemeinwohlorientiertes Handeln im ländlichen Raum schlagen Sie sogenannte Dorfwerke vor. Was passiert dort?
Wir wollen damit eine Institution anregen, die das Dorfleben organisiert, wo Leute zusammenkommen, Handwerke lernen können, sich Gemeinschaft bildet und soziale Innovation entwickelt. Um die Umbrüche zu meistern, müssen wir viel mehr an Autonomie zurückgeben, aber in Form einer Institutionalisierung. Es geht um Gemeinschaft stärken vor Ort, denn es sind so viel Kultur und so viele Institutionen ersatzlos aus den Dörfern verschwunden: die Kneipe, der Bäcker, der Metzger, der Sportplatz.
Was Sie beschreiben, passiert schon an einigen Orten. Wie wollen Sie diese Dorfwerke und die Transformation insgesamt in alle 6.000 Dörfer bringen?
Es braucht kooperative Strukturen, die Möglichkeit zu lernen, sich auszutauschen und zu vernetzen. Es muss ein Anfang gemacht werden, damit es ins Laufen kommt. Denn wo viel passiert, dorthin kommen die Leute. Wissen zieht Wissen an, Aktivität löst Aktivität aus. Und die Chance der Digitalisierung ist, dass man diese 6.000 Dörfer auch vernetzen kann, man kann ihr Knowhow in die Cloud bringen, von der alle profitieren können und am Ende sagen: 6.000 Dörfer sind Eins – und immer noch die Vielfalt der 6.000.