Grobe und teils veraltete Statistiken zeichnen ein nur unzureichendes Bild vom Leben auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern. Das Projekt „Landinventur“ will das ändern. Seine Methode: Bürgerwissenschaft. Sein Ziel: Dörfer zurück auf die Landkarte bringen.
So eine Inventur ist eine knifflige und zeitraubende Angelegenheit. Wer eine Bilanz erstellt, muss ziemlich genau hinschauen, was alles erfasst und bewertet werden muss, schließlich geht es qua Ursprung des Worts aus dem Lateinischen um die „Gesamtheit des Gefundenen“. Für ein ganzes Bundesland ist das eine wahre Herkulesaufgabe. Die Ministerien und sonstigen Stellen der öffentlichen Hand behelfen sich da insbesondere mit den statistischen Daten, die erhoben werden – so weiß man zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern sehr genau, dass von den rund 2,33 Millionen Hektar Fläche die Siedlungen knapp 129.000 Hektar ausmachen, dass Neustrelitz mit 74 Meter über dem Meeresspiegel die „Zugspitze“ des Bundeslands ist und dass Ende 2018 rund 1,6 Millionen Menschen im Nordosten Deutschlands lebten.
Aber reicht das? Wer sich die Daten einmal genauer ansieht, stellt schnell fest, dass die Lupe blinde Flecken hat. Die Fokussierung auf Metropolen und Wachstumszentren hat den ländlichen Raum zunehmend auch in seiner Erfassung abgehängt. Wie genau sieht es also eigentlich in den vielen Dörfern in Mecklenburg-Vorpommern aus? Schließlich machen die Gemeinden bis tausend Einwohnern gut 68 Prozent aller Siedlungen im Bundesland aus. Und seit 2014 verzeichnet das Land sogar wieder mehr Zuzügler aus den großen Städten als Abwanderer in die Metropolen. Im ländlichen Raum scheint es also etwas zu geben, was sich der statistischen Wahrnehmung anhand der klassischen demographischen, sozialstrukturellen und ökonomischen Indikatoren bisher entzogen hat. Doch was genau ist das? Es ist also dringend an der Zeit, eine präzisere Inventur des Landes vorzunehmen. Wie gut, dass es da Eleonore Harmel und ihr Team gibt.
Eleonore Harmel vom Thünen-Institut für Regionalentwicklung leitet ein Projekt mit dem Namen „Landinventur“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wird. Das Ziel: Die Vielfalt der Dörfer wieder sichtbar machen. „Forschung, Politik und Planung wissen zu wenig über die Situation vor Ort in den einzelnen Dörfern. Statistiken bilden nur die Fläche ab, die Daten sind teils veraltet, während sich das Land teils dynamisch entwickelt“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Über die kleinste gesellschaftliche Einheit, das Dorf, wissen wir eigentlich sehr wenig. Genau hier will die Landinventur das Bild des ländlichen Raums ergänzen, seine Vielfalt zeigen.“
Das Team aus Gestaltern, Raumforschern, Sozialwissenschaftlern und Programmierern rund um Frau Harmel hat dazu ein Jahr lang eine umfangreiche digitale Plattform (landinventur.de) entwickelt, auf der die Bewohner vor Ort „ihr“ Dorf in etwa 30 Minuten kartieren können. Zugänglich ist die Auswertung der Daten jedem. So erfährt man etwa mit einem Klick, dass in Groß Wüstenfelde im Herzen des Bundeslandes 350 Einwohner leben, von denen 200 „eigentlich immer“ vor Ort sind. Dass seit 1990 immer mehr Kinder geboren werden und seit 2000 Menschen zuziehen. Dass es dort entgegen aller Klischees keinen Leerstand gibt. Dass es dort 30 Traktoren gibt, dass das Internet eine 4G-Qualität hat und dass nicht einmal am Tag ein Bus dort hält. Aber auch: Dass es eine Vielzahl von Menschen gibt, die sich in der Jagdgenossenschaft, in der Blaskapelle, im Kulturverein oder bei den Landfrauen engagieren. Und dass natürlich gefeiert wird: bei Osterfeuer, Karneval oder Silvesterball.
„Wir wollen ein alltagsnahes Bild des ländlichen Raums zeigen“, so Harmel. Das geht nicht ohne Hilfe. Und hier hat sich das Team einen besonderen Clou ausgedacht – Stichwort Bürgerwissenschaft. Mit ihrer mobilen Forschungsstation, einem Wohnmobil, touren sie übers Land, stellen sich ins jeweilige Herz der Dörfer, lassen die Marquise herunter und kommen so mit den Menschen ins Gespräch. „Die Hemmschwelle wird über dieses Setting heruntergesetzt, die Leute sind interessiert und finden gut, was wir machen“, so Harmel. Viele geben gleich vor Ort ihr Wissen weiter, andere informieren sich, um die Daten dann selbst auf der Plattform einzutragen. „So werden sie als Dorfbotschafter zu Akteuren einer kollektiven Raumbeobachtung. Sie erleben das als Wertschätzung und korrigieren das Bild, das sie selber mitunter vom Leben in ihrem Ort haben.“
Wissenschaft an der Basis sozusagen. Der Bereich der Bürgerwissenschaften ist ein noch recht junger Zweig innerhalb der akademischen Welt, knüpft aber gleichzeitig an alte Erhebungsverfahren aus dem 19. Jahrhundert an, als man noch mit Papier und Stift über die Lande zog, um Daten zu ermitteln. Mithilfe der Digitalisierung sehen die Wissenschaftler hier nun eine Vielfalt neuer Möglichkeiten – nicht nur die Vereinfachung der Datenerhebung, sondern auch die Chance, die gesammelten Zahlen und Fakten mit bereits vorhanden Datensätzen zu verbinden und sie für bessere Planungsprozesse im ländlichen Raum nutzbar zu machen. Interessenten gibt es bereits: Das Biosphärenreservat Schaalsee würde gerne mit der Landinventur kooperieren. Und zudem ist dieses Projekt natürlich auch auf andere Bundesländer und Regionen übertragbar.
Bei der Landinventur steht man noch am Anfang. Mittlerweile sind über hundert Gemeinden auf der Plattform vertreten, tausende Daten verarbeitet und ansprechend aufbereitet worden. Gab es Überraschungen? „Für mich war es interessant zu sehen, wie viele Menschen sich außerhalb bestehender Strukturen zum Beispiel in Vereinen für ihr Dorf engagieren“, sagt Eleonore Harmel. „Rund ein Drittel der Aktiven braucht keinen festen Rahmen, sondern macht einfach.“ Zeit, dass sie sichtbar werden.
Thomas Friemel