Pseudo-News und Hypes blockieren dringend nötige Debatten wie etwa über den Klimawandel. So kann Zukunft nicht gelingen. Ein Gastbeitrag von Professor Bernhard Pörksen.
Gans Anders

Seit ein paar Tagen geht mir eine Frage nicht mehr aus dem Kopf. Gestellt hat sie Jerry Brown, bis 2019 Gouverneur von Kalifornien, Klimaschützer der ersten Stunde, ein Polit-Profi, der allein dreimal für das Amt des US-Präsidenten kandidierte: „Can we build a civilization based on news and hypes?“
Brown hatte mich auf seine Farm eingeladen, gut zwei Autostunden nördlich von San Francisco. Wir fuhren in einem Geländewagen über verdorrtes Land, endlose, staubige Weiden mit verwelktem Gras. Hier und da ein ausgetrocknetes Bachbett. Inzwischen gebe es hier draußen kaum noch Tiere, erzählte Brown. Nur jede Menge Insekten, Eidechsen, manchmal Kojoten. Die Viehwirtschaft sei längst unrentabel geworden. Und es werde von Jahr zu Jahr heißer. Die Olivenbäume, die noch wachsen, müsse er mit einer Art Sonnenschutzmittel besprühen, damit sie nicht auch noch verdorren. Er könne, hier und jetzt, die Verwüstungen des Klimawandels erleben.

In Jerry Browns unschuldig klingender Frage, ob man auf der Grundlage von News und Hypes eine Zivilisation erschaffen könne, stecken zwei Thesen mit Sprengkraft. Zum einen: Das Neue, das Interessante und medial gerade Dominante ist nicht notwendigerweise das tatsächlich Relevante. Hat ein Politiker mal eben im Flugzeug seine Maske abgesetzt und so gegen die Corona-Auflagen verstoßen? Hat er, konfrontiert mit Leid und Unglück, gelacht, und es gibt davon ein Foto? Sorgt ein Berufsprovokateur mit dem nächsten Hass-Tweet für Aufsehen? Meldet sich Donald Trump mit seinen Lügen zurück? Schon folgt Stellungnahme auf Stellungnahme. Und es entsteht im Zusammenspiel sozialer und redaktioneller Medien ein Hype, orientiert an einzelnen Personen und nicht an Prozessen, fasziniert von Charakterfragen und privater Moral, nicht von Ideologien und Programmen.

Das Problem: Aufmerksamkeit ist unvermeidlich knapp und lässt sich nur einmal investieren. Wer gebannt hinschaut, kann in dieser Zeit über nichts anderes nachdenken. Was im Ergebnis bedeutet: Je dominanter die Pseudo-News und je größer die allgemeine Aufregung über Scheinthemen, desto massiver die Blockade einigermaßen sinnvoller Debatten. Man existiert dann, zumindest für ein paar Tage oder Wochen, gedanklich in einer Sphäre des weißen Rauschens, in Wolken aus Nichtigkeiten. Nichts von all dem bleibt. Nichts davon hat für die Zukunft elementare Bedeutung. Und nichts davon ist handlungsrelevant.

Jerry Browns Frage besitzt jedoch noch eine zweite, grundsätzlichere Dimension. Denn die öffentliche Aufmerksamkeit steckt im Angesicht der drohenden Gegenwartskrisen in der falschen Zeitsphäre fest, so denke ich seit der Tour über die von der Sonne verbrannte Farm und im Angesicht der Bilder der Flutkatastrophe, die aus Deutschland stammen. Wir reagieren im Modus der Kurzfristigkeit auf Gefahren, die den Modus der Langfristigkeit erfordern.

Der US-Ökologe und Autor Stewart Brand hat ein kleines, elegantes Denkmodell entwickelt, das hilft, diesen Gedanken zu präzisieren. Er unterscheidet unterschiedliche Zeitsphären und Geschwindigkeiten der Zivilisation. Veränderungen in der Natur und der Evolution im Tierreich vollziehen sich äußerst langsam, im Rhythmus der Jahrhunderte und Jahrtausende. Auch der kulturelle Wandel benötigt viel Zeit. In der Politik ist – idealerweise – ein mittleres Tempo bestimmend, das sich der Echtzeit-Hektik verweigert. Der Handel reagiert hingegen schnell. Die Welt der Mode schließlich ist maximal flüchtig, stimmungsgetrieben, saisonal, bestimmt vom plötzlich aufschäumenden Hype.

Die grundsätzliche Schwierigkeit, so Stewart Brand, besteht darin, dass der Mensch im Anthropozän seine Umwelt immer massiver und auf Jahrhunderte und Jahrtausende hinaus verändert, aber das menschliche Denken von einer pathologisch kurzen Aufmerksamkeitsspanne regiert wird, das diese Veränderungen in ihrer zeitlichen Tiefendimension nicht erfasst. Und sie eben deshalb auch nicht debattierbar und adressierbar macht.

Hat wieder irgendwer gefordert, Inlandsflüge zu verbieten, den Konsum von Billigfleisch zu reduzieren? Schon ist es da, das große, tagesaktuelle, im Kern bloß modische Spektakel, das von Tugendterror und grüner Hypermoral handelt und die neueste Meinungsumfrage zum Thema referiert. Unbeachtet und undiskutiert bleibt hingegen die alles entscheidende Frage, was grundsätzlich zu tun wäre, um im Angesicht von brennenden Wäldern, von Dürre und Hitzetoten den Klimawandel doch noch irgendwie aufzuhalten. Hier bräuchte es andere Zeithorizonte, langfristige Planung, die streitbare, von Inhalten bestimmte Polarisierung. Und einen Abschied von der Fetischisierung des zeitlich Neuen, aktuell Aufregenden, spektakulär Konflikthaften.

Der Kult der Kurzfristigkeit wirkt toxisch. Denn er lässt politisches Handeln zum überhitzten Reaktionsgeschäft schrumpfen, legt die konzeptionelle Fantasie an die Kette und bedingt ein Syndrom, das die Soziologin Elise Boulding als „temporale Erschöpfung“ bezeichnet hat. „Wenn man geistig immer atemlos ist“, so schrieb sie bereits 1978, „weil man sich ständig um die Gegenwart kümmert, bleibt einem keine Kraft mehr, sich die Zukunft vorzustellen.“ Aber genau dieses Denken in der langen Linie und die im besten Sinne ausgeruhte Debatte über eine andere, ökologisch, sozial und politisch verträgliche Zukunft wäre im Angesicht der Gegenwartskrisen existenziell geboten. Ganz gleich, ob es um den Klimawandel geht, das Artensterben, die Bekämpfung von Pandemien, den Siegeszug eines aggressiven Populismus, die Gefahren der Desinformation oder ein Konzept digitaler Bildung.

All diese Themen werden vom Stichflammen-Spektakel und dem Hype des Moments nicht einmal im Ansatz berührt. Es ist so, als starre man auf ein paar einzelne Schaumkronen, während es darum ginge, ein Gespür für die tektonischen Verschiebungen in den Tiefen des Ozeans zu entwickeln. Das Gefangensein im Moment wird gefährlich, wenn man schnell und entschieden handeln müsste, global und mit Weitblick, in dem Wissen, dass die Effekte, wie im Falle des Klimawandels, vielleicht erst etliche Jahrzehnte später spürbar sind. Genau in dieser Situation stecken wir nun fest.

Manchmal, in dunklen, pessimistischen Momenten, werde ich das Gefühl nicht los, das eigentliche Attraktivitätsgeheimnis von Nonsens-News und medialen Hypes könnte genau darin bestehen: Verdrängung des Wichtigen und tatsächlich Entscheidenden durch das bloß Spektakuläre, Grelle und Banale, das in betäubender Intensität über Bildschirme und Displays flimmert. Ich will nicht sagen, dass die Ablenkung bewusst geschieht, das wäre verschwörungsmystisches Geraune. Es ist mehr eine Flucht aus der Komplexität und die Dämpfung einer längst spürbaren Zukunftsunruhe durch den Aufreger des Moments.

Weil man sich ständig um die Gegenwart kümmert, bleibt keine Kraft mehr für die Zukunft.

Und doch muss man hinzufügen: Es gibt jede Menge Desinformationsprofis im Mediengeschäft, die Themen setzen und andere abräumen durch breitflächige Vermüllung des öffentlichen Raumes. Etwa der Medienmogul Rupert Murdoch, der die Desorientierung ganzer Gesellschaften zum Geschäftsmodell gemacht hat. Ihm ist es gleich auf drei Kontinenten gelungen, die politischen Verhältnisse zu destabilisieren: In Großbritannien warben seine Leute mit Falschbehauptungen für den Brexit. In Australien erklärten sie die Tatsache des menschengemachten Klimawandels auch dann noch zur Erfindung, als das Land längst in Flammen stand. Und in den USA verhalf Murdochs Sender Fox News Donald Trump zur Wahl.

Aber noch mal: In der Regel geschieht es einfach, dass wir uns ablenken lassen. Nicht weil ein einzelner Medienmogul finstere Pläne verfolgen würde, sondern weil das Zusammenspiel von menschlicher Psychologie, digitaler Ökonomie und moderner Medientechnologie einen Sog erzeugt, den die Schriftstellerin Jenny Odell „Dringlichkeits-Wettrüsten“ nennt: Immer härter wird der Kampf um Aufmerksamkeit, an dem alle postend und kommentierend teilnehmen können. Immer besser und perfekter lassen sich menschliche Sehnsüchte, Intentionen und Faszinationen ausspionieren und gerade erst entstehende Hypes verstärken. Bis am Ende des Tages rund um den Globus Millionen Menschen über dasselbe Video lachen oder über die Frage nachdenken, was wohl aus dem Löwenbaby wurde, das ein Pavian in Südafrika auf einen Baum gezerrt hat, um es dort zu lausen und zu kraulen. Die Löwenbaby-Pavian-Geschichte war, nur mal so nebenbei, ein Hype im Weltmaßstab. Und man weiß, belegt durch die harte Währung der Echtzeit-Quoten, dass sogenannte Interspecies-
Lovestories rasant geklickt werden.

Natürlich sind einzelne Geschichtchen, die viral gehen, nicht das Problem. Das Problem ist die systematische Ausbeutung der menschlichen Aufmerksamkeit. Und über diese Form des Missbrauchs lässt sich nicht allein in den individualistischen, politikfernen Kategorien der Digital-Detox-Enthusiasten und der Achtsamkeitsgurus sprechen, die das Weltproblem der Informationsorganisation in ein persönliches Wellnessproblem verwandeln, nach dem Motto: „Bloß raus aus dem News-Smog, ich brauche mal wieder quality time nur für mich!“

Aufmerksamkeit ist eine elementar politische Kategorie. Und die Echtzeit-Hektik einer Erregungsindustrie, die das Publikum nicht als mündiges Gegenüber begreift, sondern zum Klickvieh herabwürdigt, erhöht nicht nur das Stresslevel für den Einzelnen. Sie vernichtet gesellschaftlich dringend benötigte Zukunftsenergien. Sie raubt der öffentlichen Debatte Substanz. Sie verengt Perspektiven, weil sie eine kollektive Gegenwartsfixierung schafft, eine Atmosphäre des totalen Jetzt.

Was also tun? Wie das langfristige Denken fördern, um den existenziellen Krisen der Gegenwart Gehör zu verschaffen? Ich hätte gerne schnelle Antworten und Fertigrezepte, wirklich. Aber die gibt es nicht. Stewart Brand arbeitet zusammen mit anderen am Bau einer riesenhaften Uhr, die, eingesenkt in einen Berg in Texas, 10.000 Jahre schlagen und als Kultstätte der tiefen Zeit ein langfristigeres Denken anstoßen soll. Jerry Brown attackiert noch als 83-Jähriger in Interviews und Stellungnahmen die Schwächung politischer Vorstellungskraft durch Nonsens-Themen, wählt das Werkzeug der Kritik. Und gewiss braucht es lange schon, so denke ich, eine Art planetarischen Journalismus, der aus der Adlerperspektive Entwicklungen sortiert, ein Denken in der langen Linie vorführt. Der Nachhaltigkeit als Nachrichtenfaktor begreift, effiziente Formen des Krisenmanagements analysiert und gegenüber einer kurzatmig gewordenen Politik mit Wucht einklagt. All das ist wichtig, gewiss.

Aber was könnte jeder Einzelne tun, jetzt und sofort? Hier hat Jenny Odell einen Vorschlag, den sie in ihrem Buch „Nichts tun“ unterbreitet. Dieser Vorschlag lautet schlicht: sich selbst für einige Zeit ins Abseits begeben, abschalten, die Fixierung auf das Spektakel des Moments unterbrechen. Aber nicht – und das ist entscheidend – mit dem Ziel der persönlichen Seelenpflege, sondern als ein Akt der Selbstbehauptung und des Widerstands, als intellektuelle Unabhängigkeitserklärung.

Es gilt, die ureigene gedankliche Spur freizulegen, stets auf der Suche nach neuen Bündnissen und der richtigen Mischung aus Kontemplation und Partizipation, Erkenntnis und Engagement. Und tatsächlich: Diese Freiheit des Rückzugs auf dem Weg zur umso entschiedeneren Einmischung ist nicht verloren. Der Rückzug wird schwieriger, das schon. Aber er bleibt möglich. Denn jeder Mensch ist „Herrscher seines winzigen, schädelgroßen Königreiches“, wie David Foster Wallace einmal sagte. Und das heißt: Man kann den Blick abwenden, die Aufmerksamkeitskannibalen und die Provokateure des Tages ignorieren, um sich dann in einer von Krisen geschüttelten Zeit einer einzigen, tatsächlich dramatischen Frage zuzuwenden: Was ist wirklich wichtig?

Bernhard Pörksen

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaften an der Universität Tübingen. Der Artikel ist ein Beitrag für "55 Voices for Democracy", einer Programmreihe von Thomas Mann House, Süddeutscher Zeitung, Deutschlandfunk und Los Angeles Review of Books.

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