- Ausgabe 08 / 2024
- geschrieben von Christiane Langrock-Kögel

Eine weiterführende Schule in Sonneberg, einer Kreisstadt im äußersten Süden Thüringens. Eine achte Klasse lauscht dem Rollenspiel, das Pädagog*innen des hessischen Bildungsträgers Creative Change vorführen. Es ist Auftakt einer Programmwoche zum Thema Rassismus. In den kleinen Szenen geht es um einen geflüchteten Jungen, nennen wir ihn Hamid, der neu in die Klasse kommt. Und um ein Mädchen, hin- und hergerissen zwischen Hamid, der sie zu seinem Geburtstag einlädt, und ihrer besten Freundin, die zu Hause Fremdenfeindliches hört. Die drei Darsteller*innen von Creative Change treiben das Dilemma vor den Stuhlreihen der Schüler*innen auf seinen Höhepunkt zu. „Hamid soll wieder verschwinden! Mein Vater sagt, das ist unser Deutschland!“, schreit die eifersüchtige Freundin. Dann bricht die Szene ab, die Schauspieler*innen treten aus ihren Rollen und führen die Jugendlichen in die Reflexion. Was passiert hier eigentlich? Wie fühlen sich die Charaktere? Wie könnte der Konflikt anders laufen, wertschätzender, friedlicher, toleranter?
Die Frage ist: Wie wirkt das von Fachleuten als „begrenzt überschaubar“ beschriebene Bundesprogramm?
Rassismus ist nur eines der Themen, die Creative Change für Projektwochen wie diese anbietet. Mobbing, Fake News, Gruppenzwang oder Sexismus – was an ihrer Schule obenauf liegt, entscheiden die Lehrkräfte. Doch die Auswahl ist eigentlich nur eine Feinheit. Denn hinter all den Workshops steckt dasselbe Ziel: demokratische Werte zu stärken.
In Sonneberg scheint diese Notwendigkeit noch größer als anderswo. Seit Juli 2023 wird der gleichnamige Landkreis an der Landesgrenze zu Bayern von einem AfD-Politiker regiert, dem Rechtsanwalt Robert Sesselmann. Der 51-Jährige ist Beisitzer im Vorstand des Thüringer AfD-Landesverbands, den der thüringische Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem einstuft. In den Medien, in Fachkreisen, dem Engagementsektor, in Freundeskreisen und Gesprächen am Abendbrottisch ist Sonneberg zum Sinnbild für die Sorge geworden, dass sich die Wahlerfolge der AfD im ostdeutschen Superwahljahr 2024 fortsetzen. Dass weitere kommunale Ämter in ihre Hände geraten. Wie muss man gegenhalten? Wen und was braucht es? Wie lassen sich demokratische Strukturen aufbauen, stärken, verteidigen – ja, retten?
Seit neun Jahren ist das größte deutsche Förderprogramm für – Zitat – „zivilgesellschaftliches Engagement für ein vielfältiges und demokratisches Miteinander und die Arbeit gegen Radikalisierungen und Polarisierungen in der Gesellschaft“ in Sonneberg aktiv. Das Mammutprojekt, aufgelegt 2015 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, heißt „Demokratie leben!“. Jahresetat 2023: 182 Millionen Euro, verteilt auf tausende Projekte in ganz Deutschland. Die theaterpädagogischen Workshops von Creative Change gehören zu den rund zehn Ideen, die im Landkreis Sonneberg gefördert werden. Zwischen 2020 und 2023 sind über 500.000 Euro in den Landkreis geflossen. Für Projekte von „schulischen Kooperationsübungen für ein gewaltfreies Miteinander“, über Filme zum Thema Flucht bis hin zu einem Körperspracheworkshop für Grundschulkinder. Angesichts der politischen Entwicklungen stellt sich die Frage: Reicht das aus? Wie wirkt das von Fachleuten als „nur begrenzt überschaubar“ beschriebene Bundesprogramm?

Sven Lehmann
Der Politiker von Bündnis 90/Die Grünen ist Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Er sagt: „Man kann 2024 nicht mit Antworten aus dem 20. Jahrhundert kommen.“
Foto: Bundesregierung/Steffen Kugler
Berlin entscheidet nicht für Sonneberg
Um sich Antworten zu nähern, hat das LAND. Magazin auf allen Ebenen recherchiert. Wir haben mit dem Familienministerium gesprochen, das gerade an einer Überarbeitung von „Demokratie leben!“ arbeitet; 2025 soll die dritte, weitere vier Jahre umfassende Förderperiode starten. Wir haben Interviews mit Wissenschaftler*innen geführt, die das Programm fortlaufend evaluieren, Stimmen bei Netzwerktreffen und Tagungen gesammelt, uns in beteiligten Kommunen und Kreisen umgehört. Vor allem aber haben wir die Basis erzählen lassen: Projektverantwortliche und Engagierte vor Ort, die Tag für Tag versuchen, antidemokratischen Kräften etwas entgegenzusetzen.
Um den Ansatz von „Demokratie leben!“ zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass das Programm auf drei Ebenen gleichzeitig wirken soll: im Bund, im Land und in der Kommune. Auf Bundesebene fördert es in jedem Bundesland so genannte Kompetenznetzwerke, die Fachveranstaltungen und Qualifizierungsmaßnahmen konzipieren. Auf Landesebene finanziert das Programm je ein Landesdemokratiezentrum, das relevante Akteur*innen vernetzen und ihre Maßnahmen bündeln soll. Auf kommunaler Ebene gründen Kreise oder ein Verbund kleinerer Städte so genannte „Partnerschaften für Demokratie“ – Anfang 2024 gibt es bundesweit 358. Angedockt sind sie an „federführende Ämter“, die wiederum freie Träger mit der Koordinierung beauftragen. Eingerichtet werden müssen zudem ein Begleitausschuss sowie ein Jugendforum. Sinn dieser breiten Basis ist es, Verantwortliche aus Verwaltung und Zivilgesellschaft an einen Tisch zu holen, um gemeinsam Lösungen für die konkreten Probleme vor Ort zu finden. Denn eines will „Demokratie leben!“ ganz explizit nicht: in Berlin entscheiden, was Sonneberg braucht.
Im Bundesfamilienministerium an der Glinkastraße in Berlin will man sich nichts anmaßen. Der für das Programm zuständige Parlamentarische Staatssekretär Sven Lehmann, Politikwissenschaftler, Pädagoge und Politiker von Bündnis 90/Die Grünen, betont, „Demokratie leben!“ sei ein „lernendes Programm“, es werde regelmäßig an aktuelle Herausforderungen angepasst. Phänomene wie gezielte Desinformation oder Fake News zum Beispiel seien heute „wesentlich virulenter“ als noch vor ein paar Jahren, man könne also „2024 nicht mit Antworten aus dem 20. Jahrhundert“ kommen. Parallel zur Bandbreite der Probleme hat sich der Programm-Etat entwickelt. 2015 startete das Ministerium mit einer Fördersumme von 40,5 Millionen Euro; bis 2023 steigerte sie sich schrittweise auf 182 Millionen Euro. Auf diesem Plateau wird das Programm in diesem Jahr stehen bleiben, so das Ergebnis des zähen Ringens der Regierung um einen Nachtragshaushalt für 2024. Mit welcher Summe „Demokratie leben!“ in die Förderperiode 2025-2029 geht, ist noch offen. Staatssekretär Lehmann sagt: „Dass ich für eine solide Ausstattung auf gleichhohem Niveau kämpfe, steht außer Frage.“

Lisa Grundler
Die Betriebswirtschaftlerin, die lange in den USA lebte, ist Referentin der Partnerschaft für Demokratie in den drei sächsischen Städten Sebnitz, Bad Schandau und Hohnstein. Grundler sagt: „Es ist gut, dass ‚Demokratie leben!‘ keine Lösungen von oben nach unten überstülpt.“
Foto: Partnerschaft für Demokratie Sebnitz
Ortswechsel in die Innenstadt von Sebnitz, Kreisstadt in der Sächsischen Schweiz. In einem Gebäude mit großem Schaufenster gegenüber der Alten Post, sitzt Lisa Grundler, Referentin des gemeinnützigen Vereins Aktion Zivilcourage. Seit zwei Jahren koordiniert der freie Träger, der sachsenweit politische Bildungsarbeit leistet, die Partnerschaft für Demokratie der drei Städte Sebnitz, Bad Schandau und Hohnstein. Bei Lisa Grundler in Sebnitz laufen die Fäden zusammen. Gemeinsam mit den Akteur*innen vor Ort hat die 34-Jährige eine Demokratiestrategie entwickelt. Sie soll aufzeigen, an welchen thematischen Schwerpunkten in der Region gearbeitet werden muss. Zum Beispiel an der Wertschätzung für kulturelle Vielfalt – unter anderem durch Kochkurse oder Begegnungsformate, ausgerichtet von lokalen Vereinen oder Initiativen. Zum anderen regelt die Sebnitzer Demokratiestrategie aber auch die Pflichten der Partnerschaft: Sie muss regelmäßig Bedarfe abfragen, Austauschformate ausrichten, Öffentlichkeitsarbeit für das Programm betreiben, Jugendliche zur Mitarbeit motivieren, Schulungen anbieten.
Lisa Grundler hat Betriebswirtschaft studiert und 14 Jahre lang in großen Wirtschaftsunternehmen in den USA gearbeitet. Vor zwei Jahren kam sie zurück nach Sebnitz, wo sie aufgewachsen ist, wollte etwas ganz anderes machen, am liebsten im Gemeinwohlbereich. Jetzt wird ihr Fulltimejob über „Demokratie leben!“ finanziert. „Ich liebe diese Arbeit“, sagt sie. Ihr Bürgerbüro stehe allen offen, viele spazierten mit ihren Anliegen herein. Trotzdem ist es schwierig, Engagement-Nachwuchs zu finden, Sebnitz hat – wie so viele andere Orte auch – ein Demografieproblem. Abends klappen die Bürgersteige hoch, viele Junge ziehen in größere Städte. Grundler geht offensiv auf diejenigen zu, die bleiben und versucht zu vermitteln, dass Demokratie ein Prozess ist, der Beteiligung nicht nur erlaubt, sondern auch dringend benötigt. Sie zeigt Beteiligungsmöglichkeiten auf und fragt direkt nach, wer Förderung braucht,für eine Idee oder ein Projekt. „Es ist gut, dass es ‚Demokratie leben!‘ gibt“, sagt sie. „Das Programm stülpt nicht von oben nach unten Lösungen über, sondern stärkt vorhandene Strukturen.“
Aber Grundler würde sich sehr wünschen über die kurzen Förderperioden hinaus denken zu können. Anja Besand, Inhaberin des sachsenweit einzigen Lehrstuhls „Didaktik der politischen Bildung“ an der TU Dresden, hält diese Planungsunsicherheit für ein zentrales Problem. „Da geht regelmäßig Kompetenz verloren“, sagt sie. „Wenn eines klar ist, dann: Demokratieförderung hat nur Erfolg, wenn Engagement auf langer Strecke stattfinden kann. Wer menschenfeindlich denkt, hört damit nicht nach drei Gesprächen auf. Es geht darum, immer wieder in Kontaktsituationen zu kommen und zu bleiben – gerade, wenn es um Gespräche über gefährliche politische und soziale Gräben hinweg geht.“
Demokratie ist ein Prozess, der Beteiligung nicht nur erlaubt, sondern auch dringend benötigt.
Wissenschaftlich begleitet wird „Demokratie leben!“ unter anderem vom Deutschen Jugendinstitut e.V. (DJI), laut eigenen Angaben mit seinen 280 Forschenden eines der größten sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitute Europas. Das bislang jüngste Fazit des Instituts aus dem Jahr 2022 ist vorsichtig formuliert: Das Programm leiste einen „relevanten Beitrag zur Stärkung der Demokratie auf Bundesebene und zur Gestaltung von Vielfalt auf kommunaler Ebene“. Es erreiche seine adressierten Zielgruppen „im Großen und Ganzen“. Als besondere Stärke werten die Forschenden, dass das Bundesprogramm erfreulich flexibel und anpassungsfähig sei, also gut auf sich verschärfende gesellschaftliche Problemlagen wie die Zunahme von Verschwörungserzählungen reagieren könne.
Der Bericht beschreibt aber auch Nachteile des „komplexen und stark binnendifferenzierten“ Programms. Aus dem Wissenschaftsdeutsch übersetzt meint das: „Demokratie leben!“ agiert auf so unterschiedlichen Ebenen und in so vielen Bereichen, dass der fachliche Austausch unter den Beteiligten leidet. Ein Beispiel dafür sind die 160 gesondert geförderten Modellprojekte – darunter auch eines des Thünen-Instituts für Regionalentwicklung – von denen sich das Ministerium geballte Innovationskraft unter anderem für die Kinder- und Jugendhilfe erhofft. Doch der Erkenntnistransfer aus diesen Projekten in die Praxis, so die Kritik des Deutschen Jugendinstituts, finde noch zu wenig statt, Synergiepotenziale blieben ungenutzt. Die Autor*innen empfehlen, die bislang rein informative Programm-Webseite von „Demokratie leben!“ zu einer „intelligenten, übersichtlichen und benutzungsfreundlichen Plattform für Vernetzung und Transfer“ umzubauen. Den Akteur*innen aus der Zivilgesellschaft könnte das die Arbeit erleichtern: Zu erfahren, wer vor ähnlichen Herausforderungen steht, welche Lösungen es vielleicht schon gibt, kann für mehr Mut und Motivation sorgen.

Martin Rech
Der Neulandgewinner ist erster Vorsitzender des Vereins Pößneck Alternativer Freiraum, PAF. Er sagt: „Der Begleitausschuss gehört in die Hände der Zivilgesellschaft.“
Foto: Jörg Gläscher
Das Programm lernt dazu
Mit der Rolle der Zivilgesellschaft im ländlichen ostdeutschen Raum kennt sich Martin Rech aus. Der 41-Jährige ist Vorsitzender des Vereins „Pößneck Alternativer Freiraum“ (PAF) in Pößneck, der größten Stadt des Saale-Orla-Kreises. Rechs „Freiraum“ ist ein selbstorganisiertes Kulturzentrum, ein „Haus der Möglichkeiten“. In dem Backsteingebäude aus dem Jahr 1900 „können sich alle Jugendlichen treffen, frei und unbeschwert“, sagt Rech. Es gibt Galerie- und Werkstatträume, eine Konzertbühne, eine Bar und einen Garten. Aber es geht um mehr als Freizeitgestaltung: „Von Filmen zum Thema Flucht bis zu Stolperstein-Führungen über jüdisches Leben in Pößneck: Bei uns passiert viel, was die Demokratie stärkt“. Dem Saale-Orla-Kreis drohte bis vor kurzem ein ähnliches Schicksal wie dem AfD-regierten Landkreis Sonneberg. Doch anders als dort hat die AfD Ende Januar 2024 an der Saale eine knappe Niederlage erlitten. Im ersten Wahlgang lag der AfD-Kandidat, ein Hardliner mit Kontakten ins Reichsbürger-Milieu, zwar mit 46 Prozent der Stimmen vor den 33 Prozent seines Konkurrenten der CDU. Doch die Stichwahl brachte die Wende: Die CDU gewann mit knapp 5 Prozent Vorsprung.
„Entscheidend für den Wahlausgang war die Mobilisierung im demokratischen Lager“, schrieb die Süddeutsche Zeitung am Tag nach der Stichwahl: „Im 80.000-Einwohner-Landkreis Saale-Orla hat sich schon vor Monaten ein ziviles Bündnis für Weltoffenheit und Toleranz formiert.“ Mittendrin: die überparteiliche Gruppe „Dorfliebe für alle“, die vor der Landratswahl zu Demonstrationen aufrief und sich weiter für einen „respektvollen Diskurs und solidarische Politik“ einsetzen will. Zu den Gründungsmitgliedern gehört auch Martin Rech vom PAF. „Es gibt hier viele Leute, die dem Staat gegenüber sehr kritisch eingestellt sind“, sagt er. Als Vertreter des Freiraums gehört er auch zum Begleitausschuss der Partnerschaft für Demokratie Saale-Orla Kreis. Er entscheidet gemeinsam mit den anderen Mitgliedern aus Verwaltung und Zivilgesellschaft darüber, welche Projekte aus den Mitteln von „Demokratie leben!“ gefördert werden.

Foto: Jörg Gläscher
Rech findet, dass zu viele Kommunalvertreter*innen im Begleitausschuss sitzen. Einen Sitz haben die Städte Pößneck, Neustadt an der Orla, Schleiz und Triptis sowie die Gemeinde Krölpa. Hinzu kommen Abgesandte des Gewerkschaftsbunds, der Volkssolidarität oder der evangelischen Kirche. Im Bereich der Vereine und Initiativen wird es hingegen dünn. „Meiner Meinung nach gehört der Begleitausschuss in die Hände der Zivilgesellschaft“, sagt Rech, „weil sie keine Agenda verfolgt.“ Über Förderzuschläge für einzelne Projektanträge wundert er sich immer wieder. „Manches hat höchstens am Rande etwas mit Demokratieförderung zu tun, zum Beispiel ein Graffiti-Workshop im Kindergarten.“
„Demokratie leben!“ will ein lernendes Programm sein. Seine Strukturen verändern, wenn sich zeigt, dass eine Gruppe von Menschen unterrepräsentiert ist – wie es im Jugendbereich der Fall war. Das Frankfurter Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (ISS), ebenfalls mit der wissenschaftlichen Begleitung des Programms betraut, hat deshalb schon früh die Einführung eines speziellen Gremiums für Jugendliche vorgeschlagen. In jeder Partnerschaft für Demokratie gibt es seitdem ein Jugendforum, selbstverwaltet und mit eigenem Budget ausgestattet. Sebastian Winter, Soziologe und Sozialpsychologe, leitet den Bereich Demokratieförderung am ISS. Seine aktuelle Empfehlung an das Bundesprogramm: Alle Anstrengung darauf zu verwenden, „bislang marginalisierten Gruppen Gehör und Teilhabe zu verschaffen“ und andererseits „deutungsmächtige Akteur*innen“ auf kommunaler Ebene zu gewinnen, also Menschen, die bereits eine Stimme haben, von der Bürgermeisterin bis zum Sportvereinsvorsitzenden. Denn wenn sie sich eindeutig demokratiestärkend positionierten, ließe sich eine Brandmauer gegen rechtsextremen Sprech hochziehen.

Sebastian Winter
Der Sozialpsychologe leitet den Bereich Demokratieförderung am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt am Main. Er sagt: „Entscheidend ist, Regionen mit einem besonderen Förderbedarf zu identifizieren und gezielt zu unterstützen.“
Foto: Picturpeople/ISS
Bitte um Mithilfe
Im jüngsten Bericht des ISS heißt es, die Corona-Pandemie habe die „antidemokratischen Netzwerke gestärkt“ und stelle die Partnerschaften für Demokratie auf die Probe. Auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine verschärfe die Lage vor Ort, unter anderem, weil Geflüchtete untergebracht werden müssen. Inflation und Energiekrise wirkten sich auf die Stimmung aus – besonders in ostdeutschen Bundesländern. Über einen „hohen bis sehr hohen Problemdruck“ klagten 2021 rund 30 Prozent der lokalen Partnerschaften für Demokratie. Im Jahr darauf waren es schon 55 Prozent. Glaubt Winter, dass es immer mehr Geld braucht, um Demokratie auf der individuellen, der kollektiven und der institutionellen Ebene zu stärken – oder etwas anderes? „Entscheidend ist, Regionen mit einem besonderem Förderbedarf zu identifizieren und gezielt zu unterstützen“, sagt Winter. „Sie liegen – aber nicht nur – vor allem im ländlichen, strukturschwachen Raum.“
Einmal im Jahr verschickt das ISS Fragebögen an die derzeit 358 Partnerschaften für Demokratie. Zudem werden dutzende Interviews geführt, vor allem mit federführenden Ämtern und Koordinierungsstellen. Ausgewählte Orte besuchen die Forschenden persönlich. Die Ergebnisse versammelt der „Strukturdatenband 2022“ auf mehr als 70 Seiten. Interessant ist: 84 Prozent der befragten Koordinierungsstellen schätzen das Engagement der zivilgesellschaftlichen Akteur*innen als hoch ein – aber nur 36 Prozent empfinden die lokalpolitischen Vertreter*innen als ähnlich aktiv. 80 Prozent der Befragten sind davon überzeugt, Jugendliche und den ehrenamtlich engagierten Teil der Bevölkerung gut zu erreichen. Ähnlich groß ist die Zustimmung zu der Aussage, „Demokratie leben!“ könne flexibel auf die Situation und die Bedarfe vor Ort reagieren.
Es scheint, als sei es nicht nur so dahingesagt, dass sich das Programm bescheiden als ein lernendes bezeichnet. Thomas Heppener, Referatsleiter des Bereichs Demokratieförderung im Bundesfamilienministerium, in der Szene als „Vater des Programms“ bezeichnet, hat im Herbst 2023 auf dem Überland-Festival in Görlitz, dem Netzwerktreffen der Transformations-Gestalter*innen im ländlichen ostdeutschen Raum, um Ideen und Anregungen für eine Weiterentwicklung des Programms geworben. Auch bei einer Fachtagung in Leipzig im November 2023 befragte das Ministerium die Tagungsteilnehmenden von innerhalb wie außerhalb des Programms nach ihren Erfahrungen und Empfehlungen. Zu den größten Herausforderungen, so die Stimmen in Leipzig, gehörten die Vorstöße antidemokratischer Kräfte und deren Versuche, das Programm zu unterwandern.
Wie das funktionieren kann, zeigt sich am Beispiel des neuen Landrats von Sonneberg, dem AfD-Politiker Robert Sesselmann. Zitieren lassen möchte sich damit niemand, aber nach dem Wechsel im Landratsamt sollte das Thema der lokalen Demokratie-Konferenz, die Partnerschaften für Demokratie jährlich ausrichten sollen, offenbar kurzfristig geändert werden: vom „Umgang mit Rechtsextremismus“ hin zu „Senioren und Kriminalität“. Nur kurze Zeit später wurde ein weiterer Vorstoß des AfD-Landrats bekannt: Laut einer Reportage aus Sonneberg, erschienen in der tageszeitung (taz), versuchte Sesselmann, die Teilnahme seines Kreises am Programm „Demokratie leben!“ ganz zu unterbinden. Seine Begründung: Den – mit rund 35.000 Euro geringen – Eigenanteil, den der Landkreis bezahlen muss, um Fördergeld in sechsstelliger Höhe zu bekommen, könne man aus Gründen der Haushaltskonsolidierung nicht aufbringen. Erst als der Jugendhilfeausschuss mit einem Sonderkreistag drohte, ruderte der AfD-Politiker zurück. Doch: Wie lässt sich solchen Gefahren beikommen? Wie muss sich das Programm gegen solche Angriffe wappnen? Die Verantwortlichen im Familienministerium setzen auf Schulungen für federführende Ämter und Koordinierungsstellen, um deren Selbstbewusstsein gegenüber Bürgermeister*innen und Landrät*innen zu stärken.

Pedram Aghdassi
Der Sohn einer aus dem Iran eingewanderten Familie ist Geschäftsführer des Offenbacher Bildungsträgers Creative Change e.V. Aghdassi sagt: „‚Bei Demokratie leben!‘ kann und darf vieles vor Ort entschieden werden, das ist gut. Aber ich träume vom Übergang in eine Regelförderung.“
Foto: Creative Change
Es fehlt an Planungssicherheit
Pedram Aghdassi setzt früher an, nämlich bei den Wähler*innen der Zukunft. Aghdassi ist Sohn einer iranischen Migrantenfamilie, 1988 in Deutschland zur Welt gekommen. Als er in Ingolstadt in die erste Klasse kam, sprach er fehlerfrei Deutsch, wurde aber trotzdem in einen Deutschkurs gesteckt. Auch auf dem Gymnasium, erzählt Aghdassi, habe er „etliche Diskriminierungserfahrungen gesammelt“. Ihn hat das motiviert, sich für antirassistische Arbeit und Demokratieförderung an Schulen einzusetzen. 2014 gründete er Creative Change. Mit „Act now!“, dem zu Anfang beschriebenen Theaterpädagogik-Programm, erreichen Aghdassi und sein Team inzwischen jährlich 13.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland. Ein Großteil von ihnen lebt im ländlichen Raum.

Foto: Creative Change
„Creative Change wirkt nachhaltig“, sagt Ines Greifelt, systemische Therapeutin und Mitarbeiterin der Werkstatt Bildung und Medien GmbH, die im Landkreis Sonneberg die Partnerschaft für Demokratie koordiniert. „Seit neun Jahren finden die Projektwochen im ganzen Landkreis statt. Dabei lernen die Kinder Unterschiede kennen zwischen dem, was sie zu Hause hören und was sie selbst empfinden. Sie entwickeln eine eigene Meinung.“ Eine Schülerin sagt nach der Projektwoche, der Workshop habe ihr geholfen, sich „in die Rollen anderer zu versetzen, zu spüren, wie sich Ausgrenzung oder Rassismus anfühlen“. Auch die als „stille Beobachter*innen“ anwesenden Lehrkräfte stellen „Act now!“ ein positives Zeugnis aus: 60 Prozent bewerten es mit „sehr gut“, 30 Prozent mit „gut“.
„In Sonneberg liegt der Frust weit über dem deutschen Durchschnitt“, sagt Creative Change-Gründer Aghdassi. „Es ist krass zu erleben, dass teilweise schon Siebtklässler aufgegeben haben.“ Mehr als zehn Prozent seiner Projekte führt Creative Change in Thüringen durch. „Der Ansatz von ‚Demokratie leben!‘ ist richtig“, findet Aghdassi. „Vieles kann und darf vor Ort, an der Basis, entschieden werden. Aber ich träume von einer Entfristung, vom Übergang in eine Regelförderung.“ Der bürokratische Aufwand sei hoch, Anträge teilweise zwanzig Seiten lang – und jedes Mal müsse neu begründet werden, warum eine Idee, ein Projekt, ein Programm ganz neu und innovativ seien. „Warum setzen wir nicht auf das, was schon als wirkungsvoll erprobt ist?“ Aghdassi fehlt die Planungssicherheit, vor allem für seine Mitarbeitenden.
Die Atmosphäre habe sich verändert, sagen viele in Sonneberg, die nicht für die AfD gestimmt haben. Rechte Parolen würden nun nicht mehr hinter vorgehaltener Hand geäußert. Es gebe Gaststätten, in denen sich die Stammgäste mit „Heil“ begrüßten.
Zieht in Sonneberg ein Wort wie „Demokratie“? Die Pädagog*innen bei Creative Change haben sich für einen anderen Begriff entschieden. „Partizipation ist als Thema viel wirksamer“, sagt Pedram Aghdassi. Wenn Schülerinnen und Schüler erlebten, dass sie mitbestimmen dürften, dass sie selbstwirksam seien und sich deshalb an ihren Schulen wirklich etwas verändere, sei das wichtigste Ziel erreicht. „Wir müssen uns jetzt auf ein paar Themen verständigen, die wir dauerhaft fördern wollen. Ohne ständige Neuanträge. Das wird viel Geld kosten. Aber etwas anderes können wir uns gar nicht leisten.“