Die Wiese

Ob das Anti-Rechts-Festival „Jamel rockt den Förster“ im Neonazi-Dorf Jamel in Mecklenburg-Vorpommern stattfinden kann, hängt von einem unscheinbaren Stück Wiese ab. Über dessen Verpachtung entscheidet jedes Jahr neu die Gemeindevertretung Gägelow. Über ein Stück Gras, das zum Machtmittel geworden ist.
Foto: Frank Schinski

Die abschüssige Wiese neben dem alten Forsthaus dünstet Feuchtigkeit aus. Uneben und zerklüftet liegt sie da, wie ein Acker, über den ein wenig Gras gewachsen ist. Maulwurfhügel, Matsch, mausgraue Januar-Tristesse. Einige kahle Bäume und ein graues Trafohäuschen verlieren sich in der Landschaft, eine Insel aus Brombeerbüschen wuchert vor sich hin. Die Wiese am Rande des Zehn-Häuser-Dorfes Jamel sieht aus wie unzählige andere auch. Aber ihre Bedeutung ist einzigartig.

Keine 40 Menschen leben in dem kleinen Sackgassen-Dorf in Nordwestmecklenburg, das über nur eine einzige

geteerte Verbindungsstraße erreichbar ist. Jamel gehört zu der 2.600-Einwohner*innen-Gemeinde Gägelow kurz vor Wismar. Dass der Name Jamel vergleichsweise vielen Menschen ein Begriff ist, liegt daran, dass seit Jahren über das „nationalsozialistische Musterdorf“ berichtet wird, in dem bekennende Rechtsextreme Grundstücke und Häuser aufgekauft und den Ort zur „national befreiten Zone“ ausgerufen haben. Im Zentrum des Dorfs, das hauptsächlich aus einem kreisrunden Wendeplatz besteht, lebt der Neonazi Sven Krüger – Abrissunternehmer, früherer Vorstand im NPD-Landesverband sowie ehemaliges Führungsmitglied der inzwischen verbotenen Neonazi-Gruppe „Hammerskins“.

Vermummte Schmierer

Luftlinie rund 200 Meter von Krügers Wohnsitz entfernt steht das alte Forsthaus von Jamel, ein rostroter Backsteinbau mit grün gestrichenen Sprossenfenstern. Hinter diesen Scheiben leben Birgit und Horst Lohmeyer, sie Schriftstellerin, er Musiker. Seit das Paar 2004 aus Hamburg-St. Pauli aufs Land zog, lenkt es eine ganz andere Art von Aufmerksamkeit auf Jamel. Denn die Lohmeyers veranstalten seit dem Sommer 2007 jedes Jahr das Festival „Jamel rockt den Förster“ – eine ehrenamtlich organisierte, nicht-kommerzielle Musik-Polit-Protest-Feier „für Demokratie und Toleranz“. Dann stehen auf der Bühne hinter dem Forsthaus Bands und Musiker wie Deichkind, die Fantastischen Vier, Die Ärzte oder Herbert Grönemeyer – mit Blick auf Wohnhäuser mit Reichsflaggen und schwarze Geländewagen mit waffenverherrlichenden Aufklebern. Immer wieder wird das Festival bedroht und angegriffen. Von einem Baucontainer unmittelbar neben dem Festivalgelände, auf dessen Dach Dorfbewohner grölend grillen, tönt durch ein Megafon, die „faulen Fresser“ sollten endlich abhauen. 2023 verschafften sich nachts vermummte Personen Zutritt auf das Festivalgelände, die Polizei nahm sie fest. Immer wieder schmieren Unbekannte Graffitis mit verfassungsfeindlichen Symbolen auf die planenbespannten Bauzäune rund um die Festivalfläche.

Die Wiese ist zum bestimmenden Faktor für die Zukunft des Festivals geworden. Ohne den grasbewachsenen Acker samt Trafohäuschen, der direkt an das Grundstück der Lohmeyers grenzt und der Gemeinde Gägelow gehört, kann „Jamel rockt den Förster“ nicht stattfinden – zumindest nicht als die Großveranstaltung, die es heute ist. Denn das Festival ist in den vergangenen Jahren gewachsen, es passt nicht mehr in den Forsthaus-Garten. 2007 starteten die Lohmeyers mit 30 Besucher*innen, die meisten waren Freunde und Familie – im August 2024 kamen 3.500 Menschen nach Jamel, ältere, jüngere, ­viele Familien.

"Ohne diese Wiese geht es nicht – aber ob wir sie nutzen dürfen, ist jedes Jahr eine Zitterpartie."

Ihr Festival gegen Rechts im rechtsextrem gesinnten ­Jamel ist also auf die Gunst der Gemeindevertretung ­Gägelow angewiesen. Auf ihre jedes Jahr neu einzuholende Genehmigung zur Verpachtung. Zu den Mitgliedern des Gremiums gehören der Neonazi Sven Krüger und ein weiteres Mitglied seiner Wählervereinigung „Heimat­liebe“. Zwei Wochen vor und nach dem Konzertwochenende braucht der gemeinnützige Trägerverein des Festivals die Fläche – als Zufahrt für Bühnentechnik und Bauzäune, als Versorgungsweg für Caterer und Infostände sowie für die behördlich vorgeschriebenen Versammlungspunkte und das Camp des inzwischen 50-köpfigen Helferteams. Ohne diese Wiese geht es nicht, aber ob der Verein sie nutzen darf, ist für Horst und Birgit Lohmeyer jedes Jahr eine Zitterpartie mit ungewissem Ausgang.

Offensichtlich will sich die Gemeinde Gägelow den Hebel nicht aus der Hand nehmen lassen. 80.000 Euro hat das Land Mecklenburg-Vorpommern, dessen Ministerpräsidentin Manuela Schwesig eine der Schirmherr*innen des Festivals ist, der Gemeinde für den Kauf der
Wiese angeboten. Die ehrenamtliche Bürgermeisterin Christina Wandel und die Gemeindevertretung haben einen ­Verkauf im Dezember 2024 abgelehnt, das zitierte der Norddeutsche Rundfunk aus einem durchgestochenen Protokoll der nichtöffentlichen Debatte. Auch einen ganzjährigen Pachtvertrag oder eine Zusage für die
Nutzung über mehrere Jahre habe die Gemeinde bislang abgelehnt, sagt das Ehepaar Lohmeyer. 2024 bekamen sie die Genehmigung so spät, dass es für die Logistik fast zu spät war.

Im ersten Jahr kamen 30 Besucher und Besucherinnen – inzwischen rocken in Jamel im August rund 3500 Menschen. Foto: Jamel rockt den Förster / forstrock.de

Ein Ringen im Jugendclub

Über die Verpachtung der Wiese für „Jamel rockt den Förster 2025“ berät die Gemeindevertretung an einem kalten Dienstagabend Ende Januar, in den Räumen des Jugendclubs in der Unteren Straße in Gägelow. Es ist die erste Sitzung im neuen Jahr. Ein Auto nach dem anderen rollt auf den Parkplatz vor dem zweistöckigen, hellgrauen Backsteinquader. Die Gemeindevertreter*innen eilen in einen knallgelb gestrichenen Raum mit aufgemalten Kaffeebohnen an der Wand, der eigentlich als Clubcafé dient. Die zentrale Frage heute ist: Wer ist hier für das Festival, und wer will es blockieren, offen oder unter dem Radar? 

Die Gemeindevertretung scheint so zerklüftet wie die Jameler Wiese mit ihren Stolperfallen. Fakt ist: Es gibt zwölf Mitglieder, die meisten von ihnen gehören so genannten Wählergemeinschaften an: vier der „Wählergemeinschaft WIR für die Gemeinde Gägelow“, zu der auch Bürgermeisterin Wandel zählt; zwei der Wählergemeinschaft „Aktive Bürger Gägelow“. Die dritte Wählergemeinschaft heißt „Heimatliebe“ – für sie sitzen Sven Krüger und sein Nachbar Steffen Meinecke mit am Tisch. Bleiben vier Gemeinderät*innen, die als Mitglieder einer Partei in das Gremium gewählt wurden: eine Kandidatin der CDU, ein Kandidat der SPD, zwei Mitglieder von Die Linke. Eine der beiden Linkenpolitikerinnen ist die stellvertretende Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns, Bildungsministerin Simone Oldenburg – sie ist seit vielen Jahren in ihrem Wohnort Gägelow kommunalpolitisch aktiv. 

Für was die so genannte „Heimatliebe“ steht, ist klar. Nicht nur Krüger, sondern auch Steffen Meinecke ist ein früherer NPD-Aktivist. Wegen des Verstoßes gegen das Kriegswaffengesetz und Hehlerei saß Krüger mehrfach im Gefängnis. 2019 wurde er das erste Mal in die Gemeindevertretung Gägelow gewählt. Zur Wahl hatte sich damals auch Birgit Lohmeyer gestellt, die 2018 in die SPD eingetreten war. Sie erhielt 37 Stimmen, Krüger 281. „Beklemmend, wie viele Menschen hier einen Rechtsradikalen und Verbrecher“ wählten, sagte Lohmeyer der Presse. Bei der nächsten Kommunalwahl im Sommer 2024 lief es für Krüger noch besser: Er bekam relativ die meisten aller abgegebenen Stimmen, 16 Prozent der Wähler*innen setzten ihr Kreuz für die verfassungsfeindliche „Heimatliebe“.

Foto: Frank Schinski

Den Blick nach draußen lassen sie lieber zuwachsen: Birgit und Horst Lohmeyer leben seit 20 Jahren in direkter Nachbarschaft zu Neonazis. Trotzdem ist ihnen ihr Forsthaus immer noch eine Kraftquelle.

"Öffentlichkeit erzeugt rechten Gegenwind, aber sie schützt uns auch: Man verliert uns nicht aus dem Blick."

Wer ist die undichte Stelle?

Um Punkt 19 Uhr beginnt die Sitzung. Ein Gemeinderat, Streifenpolizist von Beruf, kommt drei Minuten zu spät, was die Bürgermeisterin scharf rügt. Sie wirkt angespannt. Christina Wandel sitzt am Kopfende der zu einem L zusammengeschobenen Tische, links von ihr sitzen Sven Krüger und Steffen Meinecke, gegenüber, wie aufgereiht, die übrigen Mitglieder – niemand scheint neben der „Heimatliebe“ Platz nehmen zu wollen. Vielleicht 15 Bürger*innen lauschen dem öffentlichen Teil der Sitzung, unter ihnen ist auch Birgit Lohmeyer, die sich einen Stuhl außerhalb des Blickfelds ihrer beiden Nachbarn Krüger und Meinecke gesucht hat. Auch die Presse ist anwesend, gefilmt werden darf nicht, Mitschreiben ist erlaubt. 

Bürgermeisterin Wandel kündigt als außerordentlichen Punkt der Tagesordnung ein persönliches Statement an, als Anlass nennt sie den „Mediendruck“ der vergangenen Wochen. Dass die Gemeinde darüber nachdenkt, künftig eine Wiesen-Pacht von den Lohmeyers zu verlangen, gehört zu den Informationen, die intern bleiben sollten, aber nach draußen getragen wurden. Wandel kündigt verärgert an, die undichte Stelle im Gemeinderat ausfindig zu machen und Konsequenzen zu ziehen. 

Dann wendet sie sich direkt an Birgit Lohmeyer. Ja, man begrüße ihr Festival als ein „wirksames Statement“. Aber die Lohmeyers sollten mit ihren „Generalbeschuldigungen“ und „sinnfreien Diskussionen“ aufhören – und sich mit ihrem Verein lieber für Veranstaltungen in der Gemeinde engagieren, nicht nur für ihr eigenes Festival. „Warum wehren Sie sich gegen eine Pachtgebühr? Sie können doch stolz sein, wenn Sie mit den Einnahmen für die Kommune dazu beizutragen, die Kinder dieser Gemeinde in der Grundschule demokratisch zu erziehen“, liest Wandel aus ihrem Manuskript ab. In ihrer rund fünfminütigen Rede bezeichnet sie die Wählervereinigung „Heimatliebe“ klar und deutlich als verfassungsfeindlich. Eine halbe Stunde später votieren die Bürgermeisterin und eine Mehrheit der Gemeindevertreter*innen dafür, Geldspenden von Abriss Krüger und Hüpfburgen-Verleih Meinecke anzunehmen. 

Einer, der sich mit den Widersprüchen und Konfliktlinien in der Kommune gut auskennt, ist Daniel Trepsdorf. Er leitet das „Regionalzentrum für demokratische Kultur Westmecklenburg“ und berät Institutionen oder Gemeinden, die mit Aktivitäten von Rechtsextremen konfrontiert sind. Im Ehrenamt ist Trepsdorf Vorsitzender des Kulturausschusses in der Landeshauptstadt Schwerin. Angesichts der Situation in Jamel und Gägelow warnt er vor schnellen Beurteilungen von außen: „Es ist viel schwieriger, sich im ländlichen Raum für Demokratie einzusetzen als in der Anonymität der Großstadt.“ Trepsdorf kennt Horst und Birgit Lohmeyer persönlich, er schätzt ihr Engagement. Für viele in der Gegend seien sie aber auch ein Unruhefaktor. „Natürlich wissen die Leute hier um das Problem mit der starken rechten Szene. Aber viele glauben, dem nicht kurzfristig Herr werden zu können. Psychologisch gesehen kommt es dann zu Abwehrreaktionen: Nicht wenige negieren das rezente Thema Rechtsextremismus und vollziehen innerlich eine Art Täter-Opfer-Umkehr gegenüber den Lohmeyers: Warum müsst ihr immer den Finger in die Wunde legen? Würdet ihr schweigen, hätten wir doch gar kein so großes Problem.“

"Natürlich wissen die Leute um die rechte Szene hier. Aber psychologisch gesehen vollziehen sie eine Art Täter-Opfer-Umkehr."

Todeslisten der Rechten

Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Trepsdorf will nichts relativieren. Aber er kennt die Bedrohungen im kommunalpolitischen Alltag, auch aus eigener Erfahrung als Lokalpolitiker der Partei Die Linke. Wer in Jamel ein- und ausgehe, wer die Lohmeyers unterstütze, werde von der rechten Szene dokumentiert. Feindes- und Todeslisten würden angefertigt, Engagierte sozial markiert und eingeschüchtert. „Es ist – nicht nur für Gemeindevertreter*innen – eine Wahnsinnsherausforderung, jeden Tag klare Kante zu zeigen“, sagt er. Außer Bildungsministerin Simone Oldenburg, die einzige Profi-Politikerin im Gägelower Gremium, hat jedes der ehrenamtlichen Gemeinderatsmitglieder einen ganz normalen Job. Und ein Privatleben, das in der Region stattfindet – den Hüpfburgen von „Heimatliebe“-Mitglied Meinecke zum Beispiel begegnen sie bei fast jedem Dorffest. 

Neonazi Krüger gibt sich gerne als Dorfchef und Kümmerer. Und er weiß um die Wirkung von Lob. Nach der Gemeindevertretungssitzung kurz vor Weihnachten 2024 postete er auf Facebook Fotos und ließ wissen, wie stimmungsvoll das Beisammensein beim Glühwein gewesen sei. Einer seit 20 Jahren ehrenamtlich Engagierten sprach er ein „großes Dankeschön für ihren beeindruckenden Einsatz“ aus. Auch der Bürgermeisterin klopfte er verbal auf die Schulter: Sie wolle das „Beste für ihre Gemeinde erreichen, und das gefällt uns“. Im Gemeinderat wehe nun ein „ganz neuer Wind“. Daniel Trepsdorf kennt diese Strategie: „Lob aus dem Munde eines gewaltaffinen Rechtsextremisten ist ein mentaler Schraubstock – es erhöht den Druck der Gemeinderät*innen noch. Das Signal lautet: Wir vollziehen akribisch nach, was ihr tut. Das ist toxische soziale Kontrolle.“ 

An Silvester dann der Angriff

Um 20.30 Uhr ist der öffentliche Teil der Sitzung beendet, über die Festivalwiese wird nun unter Ausschluss der Öffentlichkeit beraten. Die Zuhörer*innen werden hinausgeschickt – nicht in einen der anderen Räume des Jugendclubs, sondern vor die Eingangstür, in den drei Grad kalten Abend. Sobald die Beschlüsse gefallen seien, werde man die Gäste wieder hereinholen, heißt es. Dann wird die dicke Glastür von innen abgeschlossen.

Auch Birgit Lohmeyer wartet auf das Ergebnis. Nachmittags, in ihrem Esszimmer im Forsthaus, hat sie erzählt, dass ihr der Angriff von Silvester noch in den Knochen stecke – Unbekannte hatten ihr Grundstück betreten, so Lohmeyer, und eine Silvesterrakete auf das Paar abgefeuert. Vor einigen Jahren steckten vermummte Gestalten die große Scheune des Forsthauses in Brand, die Feuerwehr konnte nur verhindern, dass die Flammen aufs Wohnhaus übergriffen. Wo die alte Scheune einmal stand, hat der Schweizer Künstler Harry Schaffer die verkohlten Balken zu einer Skulptur aufgeschichtet, er nennt sie „Pyromide“.  

„Es gab Bedrohungen, seit wir hier sind“, sagt Horst Lohmeyer, „aber die Einschüchterungsversuche sind lauter und offensiver geworden.“ Jedes Mal wird ermittelt, fassen konnte die Polizei bisher niemanden. Lohmeyer schätzt auch den erwachsenen Sohn von Sven Krüger als gefährlich ein. Wie hält man es in einer solchen Umgebung aus, seit zwei Jahrzehnten inzwischen? Durch die Sprossenfenster des alten Forsthauses sieht man die Nachbarhäuser kaum, eine rankende Grünpflanze wuchert vor dem Glas, das drinnen und draußen trennt. Es wirkt, als hätten sich die Lohmeyers in ihrem Forsthaus eine Festung geschaffen. „Wir können hier aber trotzdem vieles ausblenden. Das Haus ist immer noch ein Kraftort für uns“, sagt Birgit Lohmeyer. 

Einmal im Jahr, für zwei Tage im August, gehört die Wiese neben dem Forsthaus denen, die für Vielfalt und für Demokratie einstehen. Foto: Christiane Langrock-Kögel

Eine unsichtbare Grenze

Ihr Mann hingegen fühlt sich nicht wohl, wenn er über Nacht alleine zuhause ist. Das Paar macht nicht gemeinsam Urlaub, denn eine*r muss immer auf das Forsthaus aufpassen, aus Sorge vor Zerstörung. Als sie es Anfang der 2000er Jahre besichtigten, wussten die Lohmeyers, dass der Neonazi Sven Krüger in Jamel lebte. „Mit dem einen Nazi werden wir fertig“, dachten sie. Doch dann holte Krüger immer mehr Menschen aus seiner rechten Szene ins Dorf. Die Lohmeyers leben am Rand von Jamel, die Straße vor ihrem Haus ist eine unsichtbare Grenze zwischen ihnen und dem Rest des Ortes, die sie außerhalb der Festivalzeiten nicht übertreten. Ihr Grundstück verlassen sie im Prinzip nur, wenn sie wegfahren. Was, wenn sie ihren Nachbarn doch einmal in die Arme laufen? Als Sven Krüger Birgit Lohmeyer vor Kurzem beim Einkaufen im Supermarkt erblickte, rief er laut und feixend: „Hier stinkts!“

Ignorieren, keinen Blickkontakt aufnehmen, das ist die Strategie der Lohmeyers. Und: für Öffentlichkeit sorgen. „Je mehr wir in den Medien sind, desto mehr Gegenwind bekommen wir von den Nazis.“ Aber sie empfinden die Öffentlichkeit auch als Schutz: „Man verliert uns so nicht aus dem Blick.“ Auf einem kleinen Schemel neben dem Ohrensessel im Esszimmer liegt ein schmales Plakat, „Solidarität mit Horst und Birgit Lohmeyer“ steht darauf. Unterstützer*innen haben am Wochenende zuvor einen Autorkorso nach Jamel organisiert, 110 Autos rollten durch den Ort. Über ihre Nummernschilder hatten die Teilnehmenden die kleinen Solidaritäts-Plakate geklebt – denn sicher fühlt sich hier niemand, der seine Stimme für das Festival und seine Organisator*innen erhebt.

Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat es mit dem Kauf der Wiese versucht, der Plan scheiterte. Die Landesregierung hat den Lohmeyers auch andere Flächen rund um Jamel für das Festival angeboten. Aber das wäre nicht dasselbe, sagen sie – „Jamel rockt den Förster“ müsse im Dorf stattfinden, in unmittelbarer Nähe zu den Nazis. Deshalb kommt ein Rückzug für sie nicht in Frage, sie können das Haus nicht verkaufen und in eine andere Gegend ziehen. „Wer würde in Jamel kaufen?“, fragt Horst Lohmeyer. „Wer will hier leben?“

Mit einem Autokorso durch Jamel solidarisierte sich ein lokales Bündnis mit den Lohmeyers. Die Nummernschilder versteckte es hinter diesen Plakaten. Foto: Frank Schinski
Eine der Schirmherr*innen von „Jamel rockt den Förster“ ist Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin, die SPD-­Politikerin Manuela Schwesig. Foto: Jamel rockt den Förster / forstrock.de

Zehn Ja, zwei Nein

Nach anderthalb eisigen Stunden vor dem Jugendclub werden die Wartenden wieder hereingelassen. Der ­Gemeinderat, der die Tür aufschließt, murmelt eine ­Entschuldigung. Im Sitzungssaal schauen viele der ­Gemeinderatsmitglieder auf ihre Sitzungsvorlagen. Die Bürgermeisterin verkündet die Beschlüsse. Herr Krüger habe über das Aus für das Festival diskutieren wollen, das habe sie beendet. Mit zehn Ja und zwei Nein habe der Gemeinderat für eine Verpachtung der Gemeindefläche an den Verein gestimmt. Aber: Einen Euro pro Quadratmeter soll der gemeinnützige Festivalverein dafür bezahlen, minus 30 Prozent Rabatt. Das bedeutet, dass für vier Wochen Wiesennutzung mehr als 10.000 Euro fällig werden.

Dann ist Schluss, die Sitzung beendet. Der Norddeutsche Rundfunk fragt vergeblich nach Interviews. Bildungsministerin Oldenburg wirft im Hinausgehen über die Schulter, dass sie in der namentlichen Abstimmung für eine unentgeltliche Verpachtung votiert habe. ­Draußen, zurück in der kalten Nacht, stellt sich Birgit Lohmeyer vor die Kamera. Sie sagt, sie habe nicht mit einem so deutlichen Votum für eine derart hohe ­Nutzungsgebühr gerechnet. „Die rechte Szene spinnt ihre Fäden überall und versucht Einfluss auf Kultur­programme und Initiativen wie uns zu nehmen. Wir ­müssen alle dagegen ansteuern.“

Die Bedrohung, direkt nebenan

Während seine Nachbarin das sagt, filmt Sven Krüger die Szene aus dem Hintergrund mit seinem Handy, vielleicht für einen weiteren Post über „die beiden Künstler, die sich selbst beweihräuchern“, die „auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung absurde Forderungen“ stellten und zurück nach Hamburg verschwinden sollten, wie er einmal schrieb. In seinem schwarzen Pickup fährt Krüger dann betont langsam vom Hof.

Kurz darauf steigt auch Birgit Lohmeyer in ihr Auto. Auch sie fährt zurück nach Jamel. Zehn Minuten später wird sie wieder zuhause sein. Dort, wo Menschen wie Sven Krüger gleich nebenan wohnen.

 

Epilog

Drei Tage vor der Gemeinderatssitzung – das wird erst zwei Wochen später öffentlich – hat Sven Krüger auf Facebook ein Video geteilt, in dem sieben schwarzgekleidete, vermummte Männer eine Stoffbahn bemalen: „Unser Dorf, unsere Regeln“. Mit zwei Vorschlaghammern bewaffnet posieren sie am Ortsschild Jamel neben einem handgeschriebenen Plakat. „Letzte Warnung“, steht darauf. Die Polizei ermittelt wieder. 

Wie geht’s?

Von Berlin bis Sonneberg, vom Bundesministerium bis an die Basis: Das größte Demokratieförderprogramm Deutschlands, „Demokratie leben!“, ist ein kompliziertes Konstrukt, das landesweit mit tausenden Projekten Vielfalt gestalten, demokratische Werte verteidigen und gegen Rechtsextremismus vorbeugen will. Aktueller Etat: 182 Millionen Euro. Lässt sich Demokratieverdrossenheit und Rechtsruck so begegnen?
Foto: Jörg Gläscher

Eine weiterführende Schule in Sonneberg, einer Kreisstadt im äußersten Süden Thüringens. Eine achte Klasse lauscht dem Rollenspiel, das Pädagog*innen des hessischen Bildungsträgers Creative Change vorführen. Es ist Auftakt einer Programmwoche zum Thema Rassismus. In den kleinen Szenen geht es um einen geflüchteten Jungen, nennen wir ihn Hamid, der neu in die Klasse kommt. Und um ein Mädchen, hin- und hergerissen zwischen Hamid, der sie zu seinem Geburtstag einlädt, und ihrer besten Freundin, die zu Hause Fremdenfeindliches hört. Die drei Darsteller*innen von Creative Change treiben das Dilemma vor den Stuhlreihen der Schüler*innen auf seinen Höhepunkt zu. „Hamid soll wieder verschwinden! Mein Vater sagt, das ist unser Deutschland!“, schreit die eifersüchtige Freundin. Dann bricht die Szene ab, die Schauspieler*innen treten aus ihren Rollen und führen die Jugendlichen in die Reflexion. Was passiert hier eigentlich? Wie fühlen sich die Charaktere? Wie könnte der Konflikt anders laufen, wertschätzender, friedlicher, toleranter? 

Die Frage ist: Wie wirkt das von Fachleuten als „begrenzt überschaubar“ beschriebene Bundesprogramm?

Rassismus ist nur eines der Themen, die Creative Change für Projektwochen wie diese anbietet. Mobbing, Fake News, Gruppenzwang oder Sexismus – was an ihrer Schule obenauf liegt, entscheiden die Lehrkräfte. Doch die Auswahl ist eigentlich nur eine Feinheit. Denn hinter all den Workshops steckt dasselbe Ziel: demokratische Werte zu stärken. 

In Sonneberg scheint diese Notwendigkeit noch größer als anderswo. Seit Juli 2023 wird der gleichnamige Landkreis an der Landesgrenze zu Bayern von einem AfD-Politiker regiert, dem Rechtsanwalt Robert Sesselmann. Der 51-Jährige ist Beisitzer im Vorstand des Thüringer AfD-Landesverbands, den der thüringische Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem einstuft. In den Medien, in Fachkreisen, dem Engagementsektor, in Freundeskreisen und Gesprächen am Abendbrottisch ist Sonneberg zum Sinnbild für die Sorge geworden, dass sich die Wahlerfolge der AfD im ostdeutschen Superwahljahr 2024 fortsetzen. Dass weitere kommunale Ämter in ihre Hände geraten. Wie muss man gegenhalten? Wen und was braucht es? Wie lassen sich demokratische Strukturen aufbauen, stärken, verteidigen – ja, retten? 

Seit neun Jahren ist das größte deutsche Förderprogramm für – Zitat – „zivilgesellschaftliches Engagement für ein vielfältiges und demokratisches Miteinander und die Arbeit gegen Radikalisierungen und Polarisierungen in der Gesellschaft“ in Sonneberg aktiv. Das Mammutprojekt, aufgelegt 2015 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, heißt „Demokratie leben!“. Jahresetat 2023: 182 Millionen Euro, verteilt auf tausende Projekte in ganz Deutschland. Die theaterpädagogischen Workshops von Creative Change gehören zu den rund zehn Ideen, die im Landkreis Sonneberg gefördert werden. Zwischen 2020 und 2023 sind über 500.000 Euro in den Landkreis geflossen. Für Projekte von „schulischen Kooperationsübungen für ein gewaltfreies Miteinander“, über Filme zum Thema Flucht bis hin zu einem Körperspracheworkshop für Grundschulkinder. Angesichts der politischen Entwicklungen stellt sich die Frage: Reicht das aus? Wie wirkt das von Fachleuten als „nur begrenzt überschaubar“ beschriebene Bundesprogramm? 

Sven Lehmann

Der Politiker von Bündnis 90/Die Grünen ist Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Er sagt: „Man kann 2024 nicht mit Antworten aus dem 20. Jahrhundert kommen.“

Foto: Bundesregierung/Steffen Kugler

Berlin entscheidet nicht für Sonneberg

Um sich Antworten zu nähern, hat das LAND. Magazin auf allen Ebenen recherchiert. Wir haben mit dem Familienministerium gesprochen, das gerade an einer Überarbeitung von „Demokratie leben!“ arbeitet; 2025 soll die dritte, weitere vier Jahre umfassende Förderperiode starten. Wir haben Interviews mit Wissenschaftler*innen geführt, die das Programm fortlaufend evaluieren, Stimmen bei Netzwerktreffen und Tagungen ­gesammelt, uns in beteiligten Kommunen und Kreisen umgehört. Vor allem aber haben wir die Basis erzählen lassen: Projektverantwortliche und Engagierte vor Ort, die Tag für Tag versuchen, antidemokratischen Kräften etwas entgegenzusetzen. 

Um den Ansatz von „Demokratie leben!“ zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass das Programm auf drei Ebenen gleichzeitig wirken soll: im Bund, im Land und in der Kommune. Auf Bundesebene fördert es in jedem Bundesland so genannte Kompetenznetzwerke, die Fachveranstaltungen und Qualifizierungsmaßnahmen konzipieren. Auf Landesebene finanziert das Programm je ein Landesdemokratiezentrum, das relevante Akteur*innen vernetzen und ihre Maßnahmen bündeln soll. Auf kommunaler Ebene gründen Kreise oder ein Verbund kleinerer Städte so genannte „Partnerschaften für Demokratie“ – Anfang 2024 gibt es bundesweit 358. Angedockt sind sie an „federführende Ämter“, die wiederum freie Träger mit der Koordinierung beauftragen. Eingerichtet werden müssen zudem ein Begleitausschuss sowie ein Jugendforum. Sinn dieser breiten Basis ist es, Verantwortliche aus Verwaltung und Zivilgesellschaft an einen Tisch zu holen, um gemeinsam Lösungen für die konkreten Probleme vor Ort zu finden. Denn eines will „Demokratie leben!“ ganz explizit nicht: in Berlin entscheiden, was Sonneberg braucht. 

Im Bundesfamilienministerium an der Glinkastraße in Berlin will man sich nichts anmaßen. Der für das Programm zuständige Parlamentarische Staatssekretär Sven Lehmann, Politikwissenschaftler, Pädagoge und Politiker von Bündnis 90/Die Grünen, betont, „Demokratie leben!“ sei ein „lernendes Programm“, es werde regelmäßig an aktuelle Herausforderungen angepasst. Phänomene wie gezielte Desinformation oder Fake News zum Beispiel seien heute „wesentlich virulenter“ als noch vor ein paar Jahren, man könne also „2024 nicht mit Antworten aus dem 20. Jahrhundert“ kommen. Parallel zur Bandbreite der Probleme hat sich der Programm-Etat entwickelt. 2015 startete das Ministerium mit einer Fördersumme von 40,5 Millionen Euro; bis 2023 steigerte sie sich schrittweise auf 182 Millionen Euro. Auf diesem Plateau wird das Programm in diesem Jahr stehen bleiben, so das Ergebnis des zähen Ringens der Regierung um einen Nachtragshaushalt für 2024. Mit welcher Summe „Demokratie leben!“ in die Förderperiode 2025-2029 geht, ist noch offen. Staatssekretär Lehmann sagt: „Dass ich für eine solide Ausstattung auf gleichhohem Niveau kämpfe, steht außer Frage.“

Lisa Grundler

Die Betriebswirtschaftlerin, die lange in den USA lebte, ist Referentin der Partnerschaft für Demokratie in den drei sächsischen Städten Sebnitz, Bad Schandau und Hohnstein. Grundler sagt:  „Es ist gut, dass ‚Demokratie leben!‘ keine Lösungen von oben nach unten überstülpt.“

Foto: Partnerschaft für Demokratie Sebnitz

Ortswechsel in die Innenstadt von Sebnitz, Kreisstadt in der Sächsischen Schweiz. In einem Gebäude mit großem Schaufenster gegenüber der Alten Post, sitzt Lisa Grundler, Referentin des gemeinnützigen Vereins Aktion Zivilcourage. Seit zwei Jahren koordiniert der freie Träger, der sachsenweit politische Bildungsarbeit leistet, die Partnerschaft für Demokratie der drei Städte Sebnitz, Bad Schandau und Hohnstein. Bei Lisa Grundler in Sebnitz laufen die Fäden zusammen. Gemeinsam mit den Akteur*innen vor Ort hat die 34-Jährige eine Demokratiestrategie entwickelt. Sie soll aufzeigen, an welchen thematischen Schwerpunkten in der Region gearbeitet werden muss. Zum Beispiel an der Wertschätzung für kulturelle Vielfalt – unter anderem durch Kochkurse oder Begegnungsformate, ausgerichtet von lokalen Vereinen oder Initiativen. Zum anderen regelt die Sebnitzer Demokratiestrategie aber auch die Pflichten der Partnerschaft: Sie muss regelmäßig Bedarfe abfragen, Austauschformate ausrichten, Öffentlichkeitsarbeit für das Programm betreiben, Jugendliche zur Mitarbeit motivieren, Schulungen anbieten.

Lisa Grundler hat Betriebswirtschaft studiert und 14 Jahre lang in großen Wirtschaftsunternehmen in den USA gearbeitet. Vor zwei Jahren kam sie zurück nach Sebnitz, wo sie aufgewachsen ist, wollte etwas ganz anderes machen, am liebsten im Gemeinwohlbereich. Jetzt wird ihr Fulltimejob über „Demokratie leben!“ finanziert. „Ich liebe diese Arbeit“, sagt sie. Ihr Bürgerbüro stehe allen offen, viele spazierten mit ihren Anliegen herein. Trotzdem ist es schwierig, Engagement-Nachwuchs zu finden, Sebnitz hat – wie so viele andere Orte auch – ein Demografieproblem. Abends klappen die Bürgersteige hoch, viele Junge ziehen in ­größere Städte. Grundler geht offensiv auf diejenigen zu, die bleiben und versucht zu vermitteln, dass Demokratie ein Prozess ist, der Beteiligung nicht nur erlaubt, sondern auch dringend benötigt. Sie zeigt Beteiligungsmöglichkeiten auf und fragt direkt nach, wer Förderung braucht,für eine Idee oder ein Projekt. „Es ist gut, dass es ‚Demokratie leben!‘ gibt“, sagt sie. „Das Programm stülpt nicht von oben nach unten Lösungen über, sondern stärkt vorhandene Strukturen.“ 

Aber Grundler würde sich sehr wünschen über die ­kurzen Förderperioden hinaus denken zu können. Anja Besand, Inhaberin des sachsenweit einzigen Lehrstuhls „Didaktik der politischen Bildung“ an der TU Dresden, hält diese Planungsunsicherheit für ein zentrales Problem. „Da geht regelmäßig Kompetenz verloren“, sagt sie. „Wenn eines klar ist, dann: Demokratieförderung hat nur Erfolg, wenn Engagement auf langer Strecke stattfinden kann. Wer menschenfeindlich denkt, hört damit nicht nach drei Gesprächen auf. Es geht darum, immer wieder in Kontaktsituationen zu kommen und zu bleiben – gerade, wenn es um Gespräche über gefährliche politische und soziale Gräben hinweg geht.“ 

Demokratie ist ein Prozess, der Beteiligung nicht nur erlaubt, sondern auch dringend benötigt.

Wissenschaftlich begleitet wird ­„Demokratie leben!“ unter anderem vom Deutschen Jugendinstitut e.V. (DJI), laut eigenen Angaben mit ­seinen 280 Forschenden eines der größten sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitute Europas. Das bislang jüngste Fazit des Instituts aus dem Jahr 2022 ist vorsichtig formuliert: Das Programm leiste einen ­„relevanten Beitrag zur Stärkung der Demokratie auf Bundesebene und zur Gestaltung von Vielfalt auf kommunaler Ebene“. Es erreiche seine adressierten Zielgruppen „im Großen und Ganzen“. Als besondere Stärke werten die Forschenden, dass das Bundesprogramm erfreulich flexibel und anpassungsfähig sei, also gut auf sich verschärfende gesellschaftliche Problemlagen wie die ­Zunahme von Verschwörungserzählungen reagieren könne.

Der Bericht beschreibt aber auch Nachteile des „komplexen und stark binnendifferenzierten“ Programms. Aus dem Wissenschaftsdeutsch übersetzt meint das: „Demokratie leben!“ agiert auf so unterschiedlichen Ebenen und in so vielen Bereichen, dass der fachliche Austausch unter den Beteiligten leidet. Ein Beispiel dafür sind die 160 gesondert geförderten Modellprojekte – darunter auch eines des Thünen-Instituts für Regionalentwicklung – von denen sich das Ministerium geballte Innovationskraft unter anderem für die Kinder- und Jugendhilfe erhofft. Doch der Erkenntnistransfer aus diesen Projekten in die Praxis, so die Kritik des Deutschen Jugendinstituts, finde noch zu wenig statt, Synergiepotenziale blieben ungenutzt. Die Autor*innen empfehlen, die bislang rein informative Programm-Webseite von „Demokratie leben!“ zu einer „intelligenten, übersichtlichen und benutzungsfreundlichen Plattform für Vernetzung und Transfer“ umzubauen. Den Akteur*innen aus der Zivilgesellschaft könnte das die Arbeit erleichtern: Zu erfahren, wer vor ähnlichen Herausforderungen steht, welche Lösungen es vielleicht schon gibt, kann für mehr Mut und Motivation sorgen. 

Martin Rech

Der Neulandgewinner ist erster Vorsitzender des Vereins Pößneck Alternativer Freiraum, PAF. Er sagt: „Der Begleitausschuss gehört in die Hände der Zivilgesellschaft.“

Foto: Jörg Gläscher

Das Programm lernt dazu

Mit der Rolle der Zivilgesellschaft im ländlichen ostdeutschen Raum kennt sich Martin Rech aus. Der 41-Jährige ist Vorsitzender des Vereins „Pößneck Alternativer Freiraum“ (PAF) in Pößneck, der größten Stadt des Saale-Orla-Kreises. Rechs „Freiraum“ ist ein selbstorganisiertes Kulturzentrum, ein „Haus der Möglichkeiten“. In dem Backsteingebäude aus dem Jahr 1900 „können sich alle Jugendlichen treffen, frei und unbeschwert“, sagt Rech. Es gibt Galerie- und Werkstatträume, eine Konzertbühne, eine Bar und einen Garten. Aber es geht um mehr als Freizeitgestaltung: „Von Filmen zum Thema Flucht bis zu Stolperstein-Führungen über jüdisches Leben in Pößneck: Bei uns passiert viel, was die Demokratie stärkt“. Dem Saale-Orla-Kreis drohte bis vor kurzem ein ähnliches Schicksal wie dem AfD-regierten Landkreis Sonneberg. Doch anders als dort hat die AfD Ende Januar 2024 an der Saale eine knappe Niederlage erlitten. Im ersten Wahlgang lag der AfD-Kandidat, ein Hardliner mit Kontakten ins Reichsbürger-Milieu, zwar mit 46 Prozent der Stimmen vor den 33 Prozent seines Konkurrenten der CDU. Doch die Stichwahl brachte die Wende: Die CDU gewann mit knapp 5 Prozent Vorsprung. 

„Entscheidend für den Wahlausgang war die Mobilisierung im demokratischen Lager“, schrieb die Süddeutsche Zeitung am Tag nach der Stichwahl: „Im 80.000-­Einwohner-Landkreis Saale-Orla hat sich schon vor Monaten ein ziviles Bündnis für Weltoffenheit und Toleranz formiert.“ Mittendrin: die überparteiliche Gruppe „Dorfliebe für alle“, die vor der Landratswahl zu Demonstrationen aufrief und sich weiter für einen „respektvollen Diskurs und solidarische Politik“ einsetzen will. Zu den Gründungsmitgliedern gehört auch Martin Rech vom PAF. „Es gibt hier viele Leute, die dem Staat gegenüber sehr kritisch eingestellt sind“, sagt er. Als Vertreter des Freiraums gehört er auch zum Begleitausschuss der Partnerschaft für Demokratie Saale-Orla Kreis. Er entscheidet gemeinsam mit den anderen Mitgliedern aus Verwaltung und Zivilgesellschaft darüber, welche Projekte aus den Mitteln von „Demokratie leben!“ gefördert werden. 

 

Zusammen anpacken, vor Ort und für die Demokratie: Wie in Pößneck ist es vielerorts die engagierte Zivilgesellschaft, die sich für Weltoffenheit und Toleranz einsetzt.

Foto: Jörg Gläscher

Rech findet, dass zu viele Kommunalvertreter*innen im Begleitausschuss sitzen. Einen Sitz haben die Städte Pößneck, Neustadt an der Orla, Schleiz und Triptis sowie die Gemeinde Krölpa. Hinzu kommen Abgesandte des Gewerkschaftsbunds, der Volkssolidarität oder der evangelischen Kirche. Im Bereich der Vereine und Initiativen wird es hingegen dünn. „Meiner Meinung nach gehört der Begleitausschuss in die Hände der Zivilgesellschaft“, sagt Rech, „weil sie keine Agenda verfolgt.“ Über Förderzuschläge für einzelne Projektanträge wundert er sich immer wieder. „Manches hat höchstens am Rande etwas mit Demokratieförderung zu tun, zum Beispiel ein Graffiti-Workshop im Kindergarten.“

„Demokratie leben!“ will ein lernendes Programm sein. Seine Strukturen verändern, wenn sich zeigt, dass eine Gruppe von Menschen unterrepräsentiert ist – wie es im Jugendbereich der Fall war. Das Frankfurter Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (ISS), ebenfalls mit der wissenschaftlichen Begleitung des Programms betraut, hat deshalb schon früh die Einführung eines speziellen Gremiums für Jugendliche vorgeschlagen. In jeder Partnerschaft für Demokratie gibt es seitdem ein Jugendforum, selbstverwaltet und mit eigenem Budget ausgestattet. Sebastian Winter, Soziologe und Sozialpsychologe, leitet den Bereich Demokratieförderung am ISS. Seine aktuelle Empfehlung an das Bundesprogramm: Alle Anstrengung darauf zu verwenden, „bislang marginalisierten Gruppen Gehör und Teilhabe zu verschaffen“ und andererseits „deutungsmächtige Akteur*innen“ auf kommunaler Ebene zu gewinnen, also Menschen, die bereits eine Stimme haben, von der Bürgermeisterin bis zum Sportvereinsvorsitzenden. Denn wenn sie sich eindeutig demokratiestärkend positionierten, ließe sich eine Brandmauer gegen rechtsextremen Sprech hochziehen.

Sebastian Winter

Der Sozialpsychologe leitet den Bereich Demokratieförderung am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt am Main. Er sagt: „Entscheidend ist, Regionen mit einem besonderen Förderbedarf zu identifizieren und gezielt zu unterstützen.“

Foto: Picturpeople/ISS

Bitte um Mithilfe

Im jüngsten Bericht des ISS heißt es, die Corona-Pandemie habe die „antidemokratischen Netzwerke gestärkt“ und stelle die Partnerschaften für Demokratie auf die Probe. Auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine verschärfe die Lage vor Ort, unter anderem, weil Geflüchtete untergebracht werden müssen. Inflation und Energiekrise wirkten sich auf die Stimmung aus – besonders in ostdeutschen Bundesländern. Über einen „hohen bis sehr hohen Problemdruck“ klagten 2021 rund 30 Prozent der lokalen Partnerschaften für Demokratie. Im Jahr darauf waren es schon 55 Prozent. Glaubt Winter, dass es immer mehr Geld braucht, um Demokratie auf der individuellen, der kollektiven und der institutionellen Ebene zu stärken – oder etwas anderes? „Entscheidend ist, Regionen mit einem besonderem Förderbedarf zu identifizieren und gezielt zu unterstützen“, sagt Winter. „Sie liegen – aber nicht nur – vor allem im ländlichen, strukturschwachen Raum.“

Einmal im Jahr verschickt das ISS Fragebögen an die derzeit 358 Partnerschaften für Demokratie. Zudem werden dutzende Interviews geführt, vor allem mit federführenden Ämtern und Koordinierungsstellen. Ausgewählte Orte besuchen die Forschenden persönlich. Die Ergebnisse versammelt der „Strukturdatenband 2022“ auf mehr als 70 Seiten. Interessant ist: 84 Prozent der befragten Koordinierungsstellen schätzen das Engagement der zivilgesellschaftlichen Akteur*innen als hoch ein – aber nur 36 Prozent empfinden die lokalpolitischen Vertreter*innen als ähnlich aktiv. 80 Prozent der Befragten sind davon überzeugt, Jugendliche und den ehrenamtlich engagierten Teil der Bevölkerung gut zu erreichen. Ähnlich groß ist die Zustimmung zu der Aussage, „Demokratie leben!“ könne flexibel auf die Situation und die Bedarfe vor Ort reagieren. 

Es scheint, als sei es nicht nur so ­dahingesagt, dass sich das Programm bescheiden als ein lernendes bezeichnet. Thomas Heppener, Referatsleiter des Bereichs Demokratieförderung im Bundesfamilien­ministerium, in der Szene als „Vater des Programms“ bezeichnet, hat im Herbst 2023 auf dem Überland-Festival in Görlitz, dem Netzwerktreffen der Transformations-Gestalter*innen im ländlichen ostdeutschen Raum, um Ideen und Anregungen für eine Weiterentwicklung des Programms geworben. Auch bei einer Fachtagung in Leipzig im November 2023 befragte das Ministerium die Tagungsteilnehmenden von innerhalb wie außerhalb des Programms nach ihren Erfahrungen und Empfehlungen. Zu den größten Herausforderungen, so die Stimmen in Leipzig, gehörten die Vorstöße antidemokratischer Kräfte und deren Versuche, das Programm zu unterwandern. 

Wie das funktionieren kann, zeigt sich am Beispiel des neuen Landrats von Sonneberg, dem AfD-Politiker ­Robert Sesselmann. Zitieren lassen möchte sich damit niemand, aber nach dem Wechsel im Landratsamt sollte das Thema der lokalen Demokratie-Konferenz, die Partnerschaften für Demokratie jährlich ausrichten sollen, offenbar kurzfristig geändert werden: vom „Umgang mit Rechtsextremismus“ hin zu „Senioren und Kriminalität“. Nur kurze Zeit später wurde ein weiterer Vorstoß des AfD-Landrats bekannt: Laut einer Reportage aus Sonneberg, erschienen in der tageszeitung (taz), versuchte Sesselmann, die Teilnahme seines Kreises am Programm „Demokratie leben!“ ganz zu unterbinden. Seine Begründung: Den – mit rund 35.000 Euro geringen – Eigenanteil, den der Landkreis bezahlen muss, um Fördergeld in sechsstelliger Höhe zu bekommen, könne man aus Gründen der Haushaltskonsolidierung nicht aufbringen. Erst als der Jugendhilfeausschuss mit einem Sonderkreistag drohte, ruderte der AfD-Politiker zurück. Doch: Wie lässt sich solchen Gefahren beikommen? Wie muss sich das Programm gegen solche Angriffe wappnen? Die Verantwortlichen im Familienministerium setzen auf Schulungen für feder­führende Ämter und Koordinierungsstellen, um deren Selbstbewusstsein gegenüber  Bürgermeister*innen und Landrät*innen zu stärken.

Pedram Aghdassi

Der Sohn einer aus dem Iran eingewanderten Familie ist Geschäftsführer des Offenbacher Bildungsträgers Creative Change e.V. Aghdassi sagt: „‚Bei Demokratie leben!‘ kann und darf vieles vor Ort entschieden werden, das ist gut. Aber ich träume vom Übergang in eine Regelförderung.“

Foto: Creative Change

Es fehlt an Planungssicherheit

Pedram Aghdassi setzt früher an, nämlich bei den Wähler*innen der Zukunft. Aghdassi ist Sohn einer iranischen Migrantenfamilie, 1988 in Deutschland zur Welt gekommen. Als er in Ingolstadt in die erste Klasse kam, sprach er fehlerfrei Deutsch, wurde aber trotzdem in einen Deutschkurs gesteckt. Auch auf dem Gymnasium, erzählt Aghdassi, habe er „etliche Diskriminierungserfahrungen gesammelt“. Ihn hat das motiviert, sich für antirassistische Arbeit und Demokratieförderung an Schulen einzusetzen. 2014 gründete er Creative Change. Mit „Act now!“, dem zu Anfang beschriebenen Theaterpädagogik-Programm, erreichen Aghdassi und sein Team inzwischen jährlich 13.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland. Ein Großteil von ihnen lebt im ländlichen Raum.

Könnte man die Konflikte auch anders lösen, wertschätzender, zugewandter, friedlicher? Jugendliche bei einer der Theater-Projektwochen des hessischen Bildungsanbieters Creative Change.

Foto: Creative Change

„Creative Change wirkt nachhaltig“, sagt Ines Greifelt, systemische Therapeutin und Mitarbeiterin der Werkstatt Bildung und Medien GmbH, die im Landkreis Sonneberg die Partnerschaft für Demokratie koordiniert. „Seit neun Jahren finden die Projektwochen im ganzen Landkreis statt. Dabei lernen die Kinder Unterschiede kennen zwischen dem, was sie zu Hause hören und was sie selbst empfinden. Sie entwickeln eine eigene Meinung.“ Eine Schülerin sagt nach der Projektwoche, der Workshop habe ihr geholfen, sich „in die Rollen anderer zu versetzen, zu ­spüren, wie sich Ausgrenzung oder Rassismus anfühlen“. Auch die als „stille Beobachter*innen“ anwesenden Lehrkräfte stellen „Act now!“ ein positives Zeugnis aus: 60 Prozent ­bewerten es mit „sehr gut“, 30 Prozent mit „gut“. 

„In Sonneberg liegt der Frust weit über dem deutschen Durchschnitt“, sagt Creative Change-Gründer Aghdassi. „Es ist krass zu erleben, dass teilweise schon Siebtklässler aufgegeben haben.“ Mehr als zehn Prozent seiner Projekte führt Creative Change in Thüringen durch. „Der Ansatz von ‚Demokratie leben!‘ ist richtig“, findet Aghdassi. „Vieles kann und darf vor Ort, an der Basis, entschieden werden. Aber ich träume von einer Entfristung, vom Übergang in eine Regelförderung.“ Der bürokratische Aufwand sei hoch, Anträge teilweise zwanzig Seiten lang – und jedes Mal müsse neu begründet werden, warum eine Idee, ein Projekt, ein Programm ganz neu und innovativ seien. „Warum setzen wir nicht auf das, was schon als wirkungsvoll erprobt ist?“ Aghdassi fehlt die Planungssicherheit, vor allem für seine Mitarbeitenden. 

Die Atmosphäre habe sich verändert, sagen viele in Sonneberg, die nicht für die AfD gestimmt haben. Rechte Parolen würden nun nicht mehr hinter vorgehaltener Hand geäußert. Es gebe Gaststätten, in denen sich die Stammgäste mit „Heil“ begrüßten. 

Zieht in Sonneberg ein Wort wie „Demokratie“? Die Pädagog*innen bei Creative Change haben sich für einen anderen Begriff entschieden. „Partizipation ist als Thema viel wirksamer“, sagt Pedram Aghdassi. Wenn Schülerinnen und Schüler erlebten, dass sie mitbestimmen dürften, dass sie selbstwirksam seien und sich deshalb an ihren Schulen wirklich etwas verändere, sei das wichtigste Ziel erreicht. „Wir müssen uns jetzt auf ein paar Themen verständigen, die wir dauerhaft fördern wollen. Ohne ständige Neuanträge. Das wird viel Geld kosten. Aber etwas anderes können wir uns gar nicht leisten.“

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