Jene stark machen, die andere mitreißen

Seitdem die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt Mitte 2020 an den Start ging, sind hohe Erwartungen aus der Zivilgesellschaft an sie geknüpft, insbesondere von den AkteurInnen im ländlichen Raum. Vorstand Jan Holze bremst: „Wir können nicht jedes Problem lösen – aber wir können in vielerlei Hinsicht helfen.“

Seitdem die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt Mitte
2020 an den Start ging, sind hohe Erwartungen aus der Zivilgesellschaft an sie geknüpft, insbesondere von den AkteurInnen im ländlichen Raum. Vorstand Jan Holze bremst: „Wir können nicht jedes Problem lösen – aber wir können in vielerlei Hinsicht helfen.“

Wer die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE) besuchen möchte, muss in den Wald. Wenige Kilometer östlich von Neustrelitz, umgeben von Kiefern in einem ehemaligen Gebäude der DDR-Volkspolizei, das heute verschiedene öffentliche Verwaltungen beherbergt, hat die im Frühjahr 2020 neu gegründete Bundesstiftung ihren vorläufigen Sitz gefunden. Noch ist alles im Aufbau: Räume werden hergerichtet und bezugsfertig gemacht, gleichzeitig operativ gearbeitet – eine Baustelle auf einer Baustelle. 

Herr Holze, Sie haben erst im Juli 2020 gemeinsam mit Co-Vorständin Katarina Peranic die Arbeit aufgenommen. Aber es sieht so aus, als wäre schon eine Menge zu tun.

Jan Holze: Ja, so ist es. Wir haben bis zum Ende der Bewerbungsfrist für unser erstes Förderprogramm Anfang November mehr als 12.500 Anträge bekommen. Ich hatte die Mitarbeitenden am Anfang um eine Einschätzung gebeten und versprochen: Wer am nächsten an der Zahl der final eingegangenen Anträge dran ist, bekommt einen Eisbecher von mir. Schon nach kurzer Zeit waren die meisten raus aus dem Rennen.

Das Interesse an Ihrer Arbeit scheint groß.

Absolut. Aber nicht nur das, auch der Bedarf ist enorm. Das angesprochene Förderprogramm ist mehr als zehnfach überzeichnet. Abgesehen von den Anträgen sind viele Engagierte auf uns zugekommen, die uns einerseits ihre Vorhaben vorstellen wollten, aber auch wissen wollten, wohin es mit der Stiftung grundsätzlich geht. Das ist für uns ein sehr wichtiger Prozess, da wir die Stiftung bedarfsorientiert aufbauen wollen. Dabei helfen uns die vielen Gespräche, aber auch die vielen Anträge, um einen bestmöglichen Überblick zu erhalten, wo was gebraucht wird. Nur so können wir unsere Unterstützungsformate konkret auf die Bedarfe hin ausrichten. Das so etwas funktioniert, zeigt unser Förderprogramm, wo wir genau in diesem Sinne vorgegangen sind – erst befragen und dann handeln. 


DSEE in Kürze

Die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE) wurde am 25. März 2020 per Gesetz von der Bundesregierung als eine Stiftung des öffentlichen Rechts des Bundes gegründet und hat ihren Sitz in Neustrelitz (M-V). Sie wird insbesondere von drei Bundesministerien getragen: BMFSFJ, BMI und BMEL. Stiftungszweck ist laut Satzung „die Stärkung und Förderung des bürgerschaftlichen Engagements und des Ehrenamts insbesondere in strukturschwachen und ländlichen Räumen im Rahmen der Zuständigkeit des Bundes“. Die Rechtsaufsicht obliegt dem BMFSFJ. Der Stiftungsrat aus 19 Mitgliedern, u. a. drei Bundesminister, hat sich am 11. November 2020 konstituiert. Das DSEE-Team umfasst derzeit 17 Angestellte, soll aber perspektivisch auf 75 aufgestockt werden. Mehr unter: 

deutsche-stiftung-engagement-und-ehrenamt.de


Lässt sich clustern, woher die Anträge kamen?

Das war einem ständigen Wandel unterzogen. Je nachdem, wo das Programm aktiv kommuniziert wurde, konnten wir teilweise direkt am Tageseingang erkennen, dass zum Beispiel offenbar in Rheinland-Pfalz gerade über uns gesprochen wurde. Unterm Strich konnten wir das gesamte Bundesgebiet abdecken. Wir hatten zuvor die Sorge, dass nur Anträge aus dem Nahbereich eingehen. Die Sorge war unbegründet. Unsere Existenz hat sich in ganz Deutschland herumgesprochen.

Kamen mehr Anträge aus Städten oder vom Land?

Ein sehr großer Anteil kam aus den ländlichen Räumen. Das deckt sich mit unserem Stiftungszweck, nach dem wir uns insbesondere den strukturschwachen und ländlichen Räumen widmen sollen.

Warum die Konzentration auf den ländlichen Raum? Ist in den Städten alles gut?

Nein, Engagement birgt überall seine spezifischen Herausforderungen. Aber ich glaube schon, dass die Schwierigkeiten in den ländlichen Räumen noch andere sind, auch was die Unterstützungsmöglichkeiten angeht. Man kann dort eben nicht so einfach mal zum Autohaus, zur Sparkasse oder zu anderen lokalen Unternehmen nebenan gehen und um Unterstützung für sein Vorhaben bitten. Da gibt es in größeren Städten andere Möglichkeiten, ja überhaupt per se Möglichkeiten. Eine weitere besondere Hürde ist die mangelnde Mobilität, die einfache Zusammenkünfte erschwert – und hier rede ich nicht von Corona. Diesen AkteurInnen in den ländlichen Räumen wollen wir uns intensiv widmen und unsere Programme entsprechend den Bedarfen vor Ort ausrichten. Dabei werden wir die Städte natürlich nicht aus dem Blick verlieren.

Sie haben 30 Millionen Euro im Jahr zur Verfügung …

Ja, das hat der Deutsche Bundestag so beschlossen. Jedes der drei beteiligten Bundesministerien unterstützt uns mit jeweils zehn Millionen Euro aus ihrem Haushalt.

… abzüglich der Personal-, Verwaltungs- und sonstigen Kosten. Wie viel Geld bleibt da für die Förderprogramme übrig?

Es sind nicht nur die Förderprogramme, mit denen wir das Ehrenamt stärken. Wir werden in vielfacher Hinsicht unterstützend tätig sein, ob über Beratungs-, Vernetzungs-, Service- oder Finanzierungsprogramme. Auch das dafür eingesetzte Personal leistet konkrete Hilfe für das Ehrenamt.

Wir wollen und
werden das Ehrenamt
in jeder Hinsicht
stärken und fördern.

Jan Holze, Deutsche Stiftung für Ehrenamt und Engagement

Die DSEE ist als also nicht nur eine fördernde Stiftung?

Wir wollen und werden das Ehrenamt in jeder Hinsicht stärken und fördern. Dabei können wir sowohl operativ – mit Beratung, Service, der Organisation von Fortbildungen und Tagungen –, als auch fördernd – im Rahmen von Förderprogrammen – tätig sein. 

Der Erfolg mit dem ersten Förderprogramm zeigt, wie hoch der Bedarf an Kapital ist. Soll es auch Zustiftungen geben?

In unserem Errichtungsgesetz ist explizit festgehalten, dass wir berechtigt sind, auch private Mittel mit einzubinden. Die Erfahrung aus meiner fünfjährigen Tätigkeit bei der Ehrenamtsstiftung Mecklenburg-Vorpommern ist, dass so etwas Zeit und Vertrauen braucht. Nicht nur, dass die Zivilgesellschaft und die Politik Vertrauen in diese Stiftung aufbauen, sondern auch die Wirtschaft, um gemeinsam mit uns für die Zivilgesellschaft tätig zu werden.

Haben Sie Schwerpunkte im Bereich der Zivilgesellschaft, die Sie ansteuern?

Nicht im Hinblick darauf, welche Form des Engagements wir unterstützen. Wir sind für die gesamte Breite der Zivilgesellschaft zuständig und wollen keine Wertung vornehmen, ob ein Ehrenamt eine höhere Relevanz hat als ein anderes. Uns geht es darum, dass sich Leute überhaupt engagieren und mit ihrem Engagement, das natürlich auf dem Boden des Grundgesetzes fußen muss, zum Gemeinwohl und Zusammenhalt beitragen. Das können auch Menschen in vereinsungebundenem Ehrenamt sein, die sich in Initiativen bewegen, in großen Verbänden, Stiftungen oder kleinen Vereinen.

Gibt es aus dem Bereich der Zivilgesellschaft auch Gegenwind?

Es gab vor der Stiftungsgründung massiven Gegenwind. Einerseits wurde die Frage gestellt: Es gibt ja schon Strukturen in der Zivilgesellschaft, auch Beratungsstrukturen, warum also noch einen Player danebensetzen? Und zum anderen wurde gefragt, warum man Mittel nicht direkt über die vorhandenen Strukturen vergeben will. Ich glaube aber, dass wir mit dem jetzt gewählten Modell einen konkreten Mehrwert bieten können, weil es auf Bundesebene eben noch kein strukturübergreifendes Kompetenz- und Service-Zentrum für das Ehrenamt gibt. Ich sehe uns dabei in einer Art Scharnierfunktion zwischen Öffentlicher Verwaltung und der Zivilgesellschaft.

Was heißt das konkret?

Wir wollen beide Seiten zusammenbringen. Einerseits wollen wir die Belange und Wünsche der Zivilgesellschaft in die Kanäle der Politik sowie der öffentlichen Verwaltung hineintragen. Andererseits wollen wir für Verständnis werben, dass es deshalb einen rechtlichen und verwaltungstechnischen Rahmen braucht, um Begünstigungen wie die Gemeinnützigkeit oder Fördermittel in Anspruch nehmen zu können. Wir hoffen, dass wir in Zukunft hier Vereinfachungen hinbekommen, etwa im Hinblick auf Steuererklärungen oder die DSGVO. Die Stiftung wird auch einen Mehrwert dahingehend liefern, hochprofessionelle juristische Beratung anzubieten, die in Verbänden oder anderen Beratungsstellen nicht abbildbar sind.

Abgesehen von der Beratung: Welche Förderprogramme sind in der Pipeline?

Wir wollen nicht jedes Jahr eine neue Kuh durchs Dorf treiben, sondern ein verlässlicher Partner sein. Einer unserer Schwerpunkte ist die Strukturstärkung, die nicht funktionieren wird, wenn man sich jedes Jahr ein neues Thema ausdenkt – man also versucht, etwas am Anfang des Jahres starkzumachen und am Ende des Jahres wieder fallen lässt. Wir müssen stattdessen langfristig angelegte Programme auflegen.

Was ist 2021 konkret geplant?

Wir bauen ein Zentrum für die Strukturstärkung in ländlichen Räumen auf, aber auch ein Servicezentrum als zentrale Anlaufstelle für Engagement und Ehrenamt sowie ein Kompetenzzentrum, das Themen identifiziert und Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen entwickelt. Zudem werden wir Programme für fortwährende Bedarfe in der Zivilgesellschaft auflegen, Stichwort Digitalisierung. Allerdings muss das Rad nicht immer neu erfunden werden. Es gibt schon ganz tolle Vorhaben und Entwicklungen, denen wir gern zu mehr Bekanntheit und einer höheren Nutzung verhelfen wollen. Schließlich finde ich, dass eine Stiftung auch dafür da sein muss, Dinge auszuprobieren und auch mal scheitern zu können.

Scheitern ist in Anbetracht von Steuermitteln nicht gern gesehen …

Es muss doch möglich sein, dass Menschen, die sich freiwillig und unentgeltlich engagieren, auch mal experimentieren können. Und da muss es eine Stelle geben, die das auch unterstützt und ein Signal der Anerkennung sendet. Wir wollen einen wertschätzenden Umgang pflegen, der es ermöglicht, dass Leute auch zukünftig Lust haben sich zu engagieren.

Um auch junge Menschen fürs Ehrenamt zu begeistern?

Der dritte Engagementbericht des Bundesjugendministeriums zeigt, dass es unter Jugendlichen durchaus angesagt ist sich zu engagieren. Die Herausforderung sehe ich also nicht in der Bereitschaft, sich zu engagieren, sondern woanders: Der rechtliche Rahmen des Vereinsrechts ist schon über 100 Jahre alt und an der einen oder anderen Stelle zu starr. Wir brauchen einerseits auf der Ebene der Organisationen die Bereitschaft, neue Strukturen so zu schaffen, damit auch kurzfristige, flexible Einsatzfelder möglich sind. Auf der anderen Seite müssen wir natürlich Menschen motivieren, sich dauerhaft in Strukturen zu engagieren, sodass sie durch ein kurzfristiges Engagement die Bereitschaft entwickeln, sich dauerhaft zu binden.

Wie kann das gehen?

Es ist notwendig, dass wir diejenigen, die sich engagieren wollen und diejenigen, die andere mitreißen, stark machen und unterstützen, indem wir ihnen immer wieder Anerkennung und Wertschätzung zuteilwerden lassen. Das kann manchmal der Euro sein, manchmal ein Kontakt, manchmal die rechtliche Beratung oder das Fortbildungsangebot. Wir müssen ihnen zeigen, dass wir für sie da sind, damit sie selbst sich auf ihr Engagement konzentrieren und andere mitreißen können.

Sehen Sie da unterschiedliche Herausforderungen im ländlichen Raum und in Metropolen?

Ja. In ländlichen Räumen sind die Wege buchstäblich weiter. Weiter, um sein Engagement auszuüben und weiter, um Unterstützung zu erhalten. Zudem gibt es nicht überall die Anpacker, die Mitreißer, die für ein buntes Vereinsleben gerade in Dörfern und kleinen Gemeinden sorgen, die das Sommerfest und das Weihnachtssingen organisieren. Es muss uns deshalb gelingen, jene Leute zu identifizieren, die solch eine Rolle übernehmen könnten. Und diese Anpacker und Mitreißer wollen wir für ihr Engagement vor Ort qualifizieren, motivieren und wenn gewünscht auch begleiten.

Genau das ist der Ansatz des Programms der Neulandgewinner, das seit Jahren Akteure im ländlichen Raum Ostdeutschlands ermächtigt. Wird es da zu einer Zusammenarbeit kommen?

Ich schätze das Programm sehr. Viele der Initiativen, die ich kenne – gerade in Mecklenburg-Vorpommern – sind wunderbare Beispiele dafür, wie Engagement vor Ort funktionieren kann. Eine Zusammenarbeit – in welcher Form auch immer – wäre aus meiner Sicht sehr wünschenswert.

Wäre es nicht gemäß Ihrem Ansatz klug, dass man genau diese AkteurInnen und ihre Projekte fördert?

Im ersten Schritt wäre es wichtig, mit diesen bestehenden Netzwerken zusammenzuarbeiten. Das sind alles Akteur-
Innen, die Erfahrungen haben und uns deshalb hilfreiche Tipps und Ratschläge geben können. Wir müssen uns jedenfalls immer wieder selbst überprüfen, ob wir mit unseren Angeboten auch die Bedarfe vor Ort treffen. Da sind Akteur-Innen, wie die NeulandgewinnerInnen, gute Gradmesser, die wir andererseits in Ihren Bedarfen auch unterstützen sollten. 

Wird denn ein Fokus Ihrer Arbeit speziell auf Ostdeutschland liegen?

Unser Stiftungszweck ist die Stärkung und Förderung des Ehrenamts und bürgerschaftlichen Engagements in ganz Deutschland. Aber: Die Statistik zeigt, dass es im Osten nach 30 Jahren immer noch nicht gelungen ist, die Zahlen tatsächlich anzugleichen. Da muss es also irgendwo einen Knackpunkt geben. Und insofern sehe ich für uns einen natürlichen Auftrag darin, uns diese Regionen gesondert anzuschauen. Aber es gibt auch in den alten Bundesländern Gegenden, in denen Herausforderungen bestehen. Die Erwartungshaltung darf nicht sein, dass wir jedes gesellschaftliche Problem überall im Land lösen können, aber wir können in vielerlei Hinsicht helfen. Das Ziel muss sein, dass jeder, der sich an uns wendet, in irgendeiner Form und im Rahmen des Möglichen Unterstützung erhält. Das muss nicht alles die Stiftung selbst leisten können, nicht jeder Euro für einen Verein muss unser Eigener sein. Wir können auch vermitteln. Wichtig ist, dass die Leute mit Herz und Hand dabei sind. Und wenn sie das sind, dann unterstützen wir sie gerne.


Fotograf: Nils Hasenau

Jan Holze

Er ist ein Kind der Gegend: Sein Elternhaus liegt nur 20 Kilometer von Neustrelitz entfernt. „Ich kenne die Gegend wie meine Westentasche“, sagt der 40-Jährige. Jan Holze studierte BWL und Jura an den Universitäten Rostock, Moskau, Nantes, Frankfurt/M. und Münster. Bevor er Vorstand bei der DSEE wurde, war er Geschäftsführer der Stiftung für Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement in Mecklenburg-Vorpommern und ehrenamtlicher Vorsitzender der Deutschen Sportjugend. 

Katarina Peranic

DSEE-Vorständin Katarina Peranic ist zertifizierte Stiftungsmanagerin und hat Politikwissenschaft in Marburg und Berlin studiert. Katarina Peranic war acht Jahre lang Vorständin der Stiftung Bürgermut und hat dort verschiedene Programme an der digital-sozialen Schnittstelle umgesetzt. Ihre Kernthemen sind die Unterstützung engagierter BürgerInnen bei der Vernetzung, dem Wissenstransfer und der Digitalisierung.

Interview: Thomas Friemel

Investiert in Menschen!

Was ist gutes Leben im ländlichen Raum wert? Wer steht dafür ein? Was können wir selbst tun? Was gemeinsam erreichen? Und wer wiederum unterstützt uns, damit nicht alles auf unseren Schultern lastet?

Was ist gutes Leben im ländlichen Raum wert? Wer steht dafür ein? Was können wir selbst tun? Was gemeinsam erreichen? Und wer wiederum unterstützt uns, damit nicht alles auf unseren Schultern lastet?

Dass diese Fragen mich umtreiben und ich mich heute stolz als „Akteurin im ländlichen Raum“ bezeichne, das hätte ich noch vor zehn Jahren nicht gedacht. 2012 beginnt meine „Bahnhofsgeschichte“: Jeden Morgen sah ich vom Küchenfenster aus auf den verfallenden Erlauer Bahnhof und in mir wuchs der Wunsch, etwas für und mit diesem Gebäude in unserer Gemeinde zu bewegen. Ich ließ Studierende der TU Dresden, an der ich zu der Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war, eine Entwurfsstudie zur Sanierung der ruinösen Immobilie anfertigen. Die guten Ideen der jungen Leute wurden von den Erlauern begeistert aufgenommen. Sie gaben den zündenden Funken, unseren Bahnhof zu retten und sinnvoll gemeinschaftlich zu nutzen. 2017 wurde der „Generationenbahnhof“ mit großem Rummel eröffnet. Heute ist er ein wichtiger Anlaufpunkt im Ort, beherbergt neben unserem Veranstaltungsraum, dem „Erlauer Wohnzimmer“, eine Seniorentagespflege plus ambulanten Pflegedienst und eine Zahnarztpraxis. Bürgerschaftliches Engagement und professionelle Dienstleistungen sollen hier unter einem Dach Hand in Hand gehen.

Möglich war das, weil die Gemeinde die „Hardware“ übernahm. Sie finanzierte die bauliche Sanierung und meisterte mit dem erforderlichen Know-how der Verwaltung alle bürokratischen Hürden einer LEADER-geförderten Baumaßnahme mit über 2 Mio. Euro Bauvolumen und ca. 700.000 Euro Fördermitteln. Weitere Mitstreiter aus Erlau und ich gründeten den Generationenbahnhof Erlau e.V. und wir kümmerten uns um die „Software“ – den inhaltlichen Aufbau des Generationenbahnhofes, die Vernetzung aller Beteiligten (immer auf Augenhöhe und gleichberechtigt) und sammelten die Wünsche und Ideen der Erlauer für das neue Zentrum. Natürlich standen nicht alle hinter dem Projekt: Es gab auch Zweifler und nicht immer Rückenwind: „So viel Geld in dieses Haus stecken – Irrsinn! Reißt den Schandfleck weg!“ Möglichst viele zu begeistern und mitzunehmen – das war eine große und langwierige Aufgabe. Wir agierten mit viel Enthusiasmus, Begeisterung, Bauchgefühl und manchmal auch ganz schön naiv.

Gesellschaft selber machen ist anstrengend

Unser Haus generiert keine nennenswerten Einnahmen. Die Miete refinanziert die Baukredite. Die Betriebskosten für die öffentlichen Bereiche trägt derzeit die Gemeinde, das ist keineswegs selbstverständlich. Erlöse aus Veranstaltungen decken gerade die entstehenden Unkosten. Über ein großes bundesweites Modellvorhaben „Regionalität und Mehrfunktionshäuser“ des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft hatten wir für drei Jahre die Möglichkeit, im Bahnhof eine Koordinatorenstelle zu besetzen – für die Organisation unser vielen Veranstaltungen, für ein kleines Bürgerbüro mit offenen Ohren und Herzen für die Erlauer, für den Kontakt zu den MieterInnen im Gebäude, für Öffentlichkeitsarbeit. Und nun? Wir können diese so notwendige Personalstelle nicht aus den wenigen Einnahmen finanzieren. Also wieder alles „ehrenamtlich“ auf viele Schultern verteilen? Schwierig! Wir merken, dass wir langfristig an unsere Grenzen stoßen und dass wir das alles zusätzlich zu unseren Jobs (zu denen wir pendeln müssen), zusätzlich zu unseren großen Höfen mit großen Gärten, zusätzlich zu unserem Familienalltag nicht mal eben nebenbei „wuppen“ können.

„Wir gehen quasi in Vorleistung für unsere Gesellschaft, indem wir neue zivilgesellschaftliche Strukturen denken und entwickeln.“

Jana Ahnert

In Förderanträgen wird oft ein Eigenanteil gefordert. Haben wir den nicht schon längst erbracht und erbringen ihn jeden Tag aufs Neue? Wir gestalten unser Leben vor Ort – eigenverantwortlich und kreativ. Wir haben Verantwortung übernommen für unsere Mitmenschen und für uns selbst. Wir gehen quasi in Vorleistung für unsere Gesellschaft, indem wir neue zivilgesellschaftliche Strukturen denken und entwickeln. Aber woran hängt eigentlich die Zivilgesellschaft? An Förderprogrammen, auf die wir uns wieder und wieder bewerben müssen? Für die wir uns immer wieder neu erfinden müssen? An deren geforderten finanziellem Eigenanteil wir scheitern? Oder die uns einen kurzen Zeitraum über Wasser halten, immer mit dem bangen Gedanken, was am Ende der Förderphase sein wird? Es braucht dringend staatliche Institutionen, Mittel und Strukturen, die uns helfen und tragen. Es braucht Investitionen in Menschen! Am Ende ist es doch nicht nachhaltig, immer viel Geld in „Gebautes“ zu stecken, aber den langfristigen Betrieb der Orte für Gemeinschaft und Engagement nicht im Blick zu haben.
Rückblickend denke ich manchmal, es war gut, dass wir nicht wussten, was auf uns zukommt, wie lang und steinig die Wege mitunter sind (und bleiben). Gesellschaft selber machen ist anstrengend. Es ist nicht immer alles Zucker. Aber zum Glück sind wir auch nicht aus Zucker. Wir sind robust und haben auf den von uns eingeschlagenen Wegen etliche Hürden genommen. Eine funktionierende Zivilgesellschaft ist eine wichtige Säule unserer Demokratie. Dafür braucht es Menschen wie uns, die gelernt haben, dass sie selbst die ExpertInnen für ein gutes Leben auf dem Land sind. Die VordenkerInnen, VorbereiterInnen, VorreiterInnen, Vorbilder und manchmal „Spinner“ sind. Denn es sind diese Menschen, die vor Ort entscheiden, wie lebendig eine Region ist. Die hartnäckig bleiben, auch auf lange Sicht. Aber wie das so ist auf langen Wegen: Es braucht WegbegleiterInnen, Motivation …und Proviant für die Strecke!

Was ist gutes Leben auf dem Land wert? Wer steht dafür ein?
Am Generationenbahnhof steht wieder ein Gerüst. Das Dach muss drei Jahre nach Fertigstellung bereits repariert werden. Unter diesem Dach sind wir weiter aktiv und engagiert. Aber auch wir wünschen uns ein Gerüst, eine Struktur, ein Fundament, auf das wir uns stützen können.

„Dafür braucht es Menschen wie uns, die gelernt haben, dass sie selbst die ExpertInnen für ein gutes Leben auf dem Land sind. Die VordenkerInnen, VorbereiterInnen, VorreiterInnen, Vorbilder und manchmal „Spinner“ sind. Denn es sind diese Menschen, die vor Ort entscheiden, wie lebendig eine Region ist.

Jana Ahnert

Jana Ahnert

Sie engagiert sich beruflich und ehrenamtlich für ein gutes Leben in ihrer Region: Sie ist Geschäftsführerin eines Evangelischen Schulvereins für Bildung und Betreuung, Initiatorin und Vereinsvorsitzende des Generationenbahnhof Erlau e.V., Regionalknoten-Ansprechpartnerin im Neulandgewinnernetzwerk und im Kirchenvorstand. Und natürlich war sie Neulandgewinnerin, und zwar der Runde 2015-2017. Aufgewachsen ist sie in einer Kleinstadt in Mittelsachsen. Nach ihrem Architekturstudium in Dresden 2007 kehrte sie mit ihrer Familie aufs Land zurück.

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