Das niemals zufriedene Musterdorf

Bollewick gilt als Paradebeispiel für eine erfolgreiche Entwicklung im ländlichen Raum. Dutzende Politiker waren schon hier, sogar das niederländische Königspaar. Also alles gut? Davon sind sie weit entfernt. Denn Stillstand ist der Tod.

Bollewick gilt als Paradebeispiel für eine erfolgreiche Entwicklung im ländlichen Raum. Dutzende Politiker waren schon hier, sogar das niederländische Königspaar. Also alles gut? Davon sind sie weit entfernt. Denn Stillstand ist der Tod.

Die Scheune ist, man kann es kaum anders sagen, der Hammer. 125 Meter lang, ein Hektar nutzbare Fläche. Der 130 Jahre alte Feldstein-Bau ist wunderschön restauriert, beherbergt nette Läden und  prächtige Veranstaltungsräume. Und sie hat das Dorf Bollewick in einer Spezialdisziplin berühmt gemacht: die größte Feldsteinscheune Deutschlands – bis zum Beweis des Gegenteils. Im Sommer war das niederländische Königspaar zu Besuch, weil die Botschaft in Berlin genau Bollewick als perfektes Ziel für die Monarchen und ein großes Medienaufgebot ausgemacht hatte.

Da kann man doch ein wenig stolz sein, als Bollewicker? „Die Scheune“, sagt Bertold Meyer, ehrenamtlicher Bürgermeister von 1991 bis zum Mai 2019, „muss dringend weiter entwickelt werden.“ Seine Nachfolgerin Antje Styskal wird noch deutlicher: „Da müssen wir richtig ausmisten. Das ist eine Touristenattraktion, aber wir wollen mehr. Da muss mehr Leben rein.“

Wer das Geheimnis hinter dem Erfolg der Vorzeige-Gemeinde Bollewick ergründen will, findet hier vielleicht eine Antwort. Sie werden landauf, landab beneidet um die Scheune und viele andere Errungenschaften – gerade wird ein dritter Kindergarten eröffnet, wo andere den letzten schließen müssen. Aber sie sind nicht zufrieden. 

Ein Team wie gecastet

Bertold Meyer und Antje Styskal sind ein Team, das sich ergänzt, als wäre es für diese Doppelrolle gecastet worden. Er denkt in großen Linien und langfristigen Projekten, er mag Zahlen und weiß, wie man Fördermittel an die richtige Stelle leitet. Meyer widmet sich mit aller beachtlichen Kraft dem Thema Energiewende, genauer: den Chancen der Bioenergie im ländlichen Raum. Sie ist eine leidenschaftliche  Netzwerkerin mit Überzeugungskraft und will dringend jüngere Menschen für die Dorfpolitik interessieren. Styskal nimmt sie einfach an die Hand: „Entscheidend ist, dass man die Leute mitnimmt.“ Die neue Bürgermeisterin führt im ersten Stock der Scheune eine Naturheilpraxis mit „Traditioneller Chinesischer Medizin“, für ein Mecklenburger Dorf wohl erstaunlich erfolgreich: „Wenn ich einem helfen kann, kommen ganze Familien hinterher.“ Genau so muss man sich auch den Mechanismus der Dorfpolitik vorstellen.    

Meyer und Styskal beteuern, jeweils froh um den anderen und seine besonderen Stärken zu sein. Ein gutes Binnenverhältnis ist wichtig, wenn man so viel vorgezeigt wird wie Bollewick: „Wir sind in Mode gekommen“, sagt Meyer. Bundesminister zeigen sich gern vor der Scheune (Backhaus 2012, Aigner 2013, Gabriel 2015 und so fort), holen sich aber nicht automatisch Applaus ab. „Ich rate jedem, sich nicht auf die Versprechungen der Politik zu verlassen“, sagt Meyer. Antje Styskal ist wieder einmal direkter: „Heiße Luft, mehr nicht.“

Nicht schön, aber erfolgreich

Bollewick ist nicht schön, nicht einmal die gigantische Scheune selbst. Im touristischen Sinne hübsch ist es fünf Kilometer weiter, in Röbel und weiter an der Müritz. Aber Bollewick ist erfolgreich. Ein Bio-Energiedorf (siehe Text S. 27), eine wachsende Gemeinde (von 450 auf über 600 Einwohner). Dem Dorf gehören neben der Scheune – mit Hotel, Restaurant, einer Kerzen-Manufaktur und mehr – weitere Gebäude, in den „Landwerkstätten“ gegenüber arbeitet die Bio-Fleischerei Thönes, nebenan wird eine Käserei einziehen.  

Sie haben ein dichtes Netz gewoben, mit Unternehmen, Projekten, wissenschaftlicher Begleitung (Text auf S. 28) – so stabil, dass ein Scheitern einzelner Teile nicht mehr das Ganze gefährden würde. Viele Auszeichnungen stellten sich ein, dabei wollen die Bollewicker gar nicht als Muster-Dörfler  und Besser-Könner gelten. „Man kann sowieso nichts kopieren“, sagt Meyer, „jedes Dorf ist anders.“

Von der Altlast zum Asset

Doch zurück zur Scheune, mit der alles anfing. 1990, als bald nach der Wende die LPG zumachte, sprach nicht viel für Bollewick. Meyer kann bildreich erzählen, wie der Gestank der Gülle den Ruf und den Alltag des Dorfs verpestete. Dann sprengte das ungetüme Bauwerk den Gemeinderat, weil viele glaubten, das Ding bedeute den sicheren Ruin der Gemeinde. In den 90ern brauchten hunderte ABM-Kräfte Jahre, um das Dorf aus einem Sumpf von Gülle herauszuwühlen, den 650 Kühe zu DDR-Zeiten erzeugt hatten. Dabei wurde es zum Symbol für Zusammenhalt und Aufbau.

1994, die maroden Kabel hingen noch aus den Wänden, kamen 6.000 Besucher zu einem Kunsthandwerkermarkt – da war klar, dass die einstige Altlast jetzt, modern gesprochen, ein „Asset“ ist. Ein industrielles Gebäude, wie es auch in Hamburg-Altona oder Berlin-Friedrichshain stehen könnte. Was im Vergleich dazu fehlt, ist eine junge, dynamische Start-up-Szene. Genau das haben sie jetzt im Blick. „Junge, kreative Zellen“, möchte Antje Styskal anlocken, es könnte um die Digitalisierung der Landwirtschaft gehen, oder auch um Meyers großes Thema, die Bio-Energie.

Nicht gleich nach dem Himmel greifen

Ein weiterer Slogan, den sich Bollewick zu eigen macht, heißt „Garten der Metropolen“. Interpretiert mit Blick nach Berlin, Hamburg und Stettin: hier, auf dem Land, werden für die Städte Lebensmittel produziert und Erholungsräume geschaffen. Unter welchen Bedingungen, ist eine brisante Frage, denn die industriell geprägt Landwirtschaft gerade in Mecklenburg-Vorpommern lässt den Dörfern wenig Spielraum für eine eigene Wertschöpfung. Im Dorfladen der Scheune lokal produzierte Lebensmittel anzubieten, ist nicht so einfach, Fleisch und Käse aus den Landwerkstätten sind nur ein Anfang. Es bleibt also genug zu tun. 

Hartnäckigkeit und andere Tugenden

Wie also haben sie es gemacht in Bollewick, dass aus einer stinkenden „Altlast“ ein prosperierendes Dorf erwachsen ist?  Bertold Meyer zählt drei Grundtugenden auf: „Ideen, Mut, Hartnäckigkeit. Wenn Politik klug arbeitet, unterstützt sie diese Eigenschaften.“ Und bei der Methodik könne man tatsächlich ein Beispiel geben: „Step by Step. Aufräumen, mit kleinen Erfolgen immer voran. Nicht gleich nach dem Himmel greifen, sondern auf den nächsten Schritt konzentrieren.“ 

So soll es weitergehen in dem Dorf, das nach der Vermutung des Bürgermeisters das jüngste weit und breit ist. „Die 30- bis 40-Jährigen fehlen uns“, hat Meyer beobachtet, „aber die Jüngeren engagieren sich wieder, das macht Hoffnung.“

Aber zufrieden, das sind sie trotzdem nicht.

Raimund Witkop 

Energie auf zwei Beinen

Unsere Regionen, Orte und Menschen haben maximale Vielfalt zu bieten. Lasst uns diese Schätze sichtbar machen und eigene Lösungen praktizieren.

Manchmal fragen mich die Leute, warum ich so viele Hüte aufhabe. Also nicht nur den, den ich meistens auf dem Kopf trage. Sondern die vielen Jobs.  Geschäftsführer vom Postel und dem 100Haus in Wolgast, Vorsitzender der LEADER-Arbeitsgemeinschaft Vorpommersche Küste und Vorsitzender des Tourismusverbandes Vorpommern, Beisitzer in der deutsch-polnischen Gesellschaft Vorpommern, Aufsichtsrat in der Usedomer Tourismusgesellschaft. Und seit kurzem auch stellvertretender Fraktionschef von der  überparteilichen “Kompetenz für Wolgast“ im Stadtparlament.

Warum also das alles? Ganz einfach: Weil es so viele Aufgaben gibt. Was uns im ländlichen Raum fehlt, ist oft Energie auf zwei Beinen.  Menschen, die gestalten wollen, die nicht resigniert, sondern optimistisch und zupackend sind. Zu Zeiten der DDR stand die Solidarität in der Gemeinschaft ganz weit oben, im heutigen System macht jeder nur noch Seins. Also könnte ich locker noch weitere Posten sammeln, aber irgendwann ist die Grenze erreicht. Denn, wenn ich etwas mache, dann will ich aktiv mitgestalten. Dazu bekommt man in unserer Region wirklich viele gute Möglichkeiten.

Mein Herz schlägt für den Tourismus im ländlich geprägten Binnenland und damit für die Entwicklung innerhalb großer Landschaftsräume. Wo man mich lässt, packe ich gern persönlich mit an.  In meinen Mitmenschen finde ich dabei viele begeisterte Mitmacher. Die Probleme beginnen erst mit einem anderen Mangel. Es fehlt an klug aufeinander abgestimmten Strukturen. Bei  jedem Engagement geht es ja immer auch um Geld.  Die öffentlichen Verwaltungseinheiten im Land wurden extrem vergrößert, ohne auf regionale und lokale Besonderheiten und Bedürfnisse zu achten. Zudem gilt das politische Landesmotto: Stärkt die Starken !  Die Regierungsmaxime dazu lautet: Teile und herrsche! Der ländliche Raum ist deshalb, ganz anders als die Landwirtschaft, in diesem Spiel fast immer der Loser.  Die EU will gegensteuern,  die Menschen in ländlichen Gebieten unterstützen und schnürt dafür extra Investitionspakete, wie beispielsweise die LEADER-Förderung.

Das bottom up-Prinzip soll sicherstellen: entschieden wird in den Regionen. Das Geld fließt nun über die Länder bis in die Orte.  Alles könnte so schön sein. Theoretisch.

Die Praxis sieht anders aus. Die Antragstellung ist für private Antragsteller oft der reine Horror, fürchterlich formalisiert und bürokratisch. In manchen Verwaltungsnischen gedeihen aus einer Mischung von Herrschaftswissen und Fördermittelzugang nicht selten kleine Fürstentümer. Die eigentliche Aufgabe, den Menschen zu dienen, gerät dabei gelegentlich aus dem Blickwinkel. So schlägt manchem Projektträger beleidigendes Misstrauen entgegen, wenn ein innovatives Projekt das bisher Gewohnte in Frage stellt. Das zähe Ringen  der Engagierten und Ambitionierten mit bürokratischen Betonköpfen oder mutlosen Sachbearbeitern um die Almosen gut gemeinter Förderpolitik verbraucht riesige Ressourcen an Kraft, Zeit, frisst Lebensqualität und raubt letztendlich auch das Vertrauen in die Institutionen.

Dabei lässt sich zumeist gar kein direkt Schuldiger ausmachen. Die Verwaltungen sind einfach in das zivilgesellschaftliche Machtvakuum gestoßen, das mit dem Ende der DDR entstanden ist. Die Demokratie ist auf dem Lande 1989 ja nicht erkämpft worden, sondern sie kam wie bereits vorherige Phasen als eine Erscheinung von außen zu den Menschen. Langwierige, anstrengende, bisweilen nervige Beteiligungs- und Teilhabeprozesse sind in Amtsgemeinden, Kreisverwaltungen und Ministerien deshalb nicht immer populär.  

Wenn  Macht wieder geteilt werden soll, gibt keiner gern wieder etwas ab. Wir Bürger und Bürgermeister bekommen unsere Spielräume „von oben“ nur dann zugeteilt, wenn wir uns artig an die pedantischen Spielregeln halten. Als Bittsteller, um an Geld für Investitionen zu kommen, müssen wir uns angepasst verhalten und teilweise den größten Unsinn ertragen oder sogar hohle Phrasen dreschen. Das müsste echt anders laufen, wenn sich bei den Leuten Begeisterung für ihr Gemeinwohl entwickeln soll. 

Ich halte viel von Bottom-up. Heißt: Wir vor Ort wissen am besten, was für unsere Dörfer und Kleinstädte gut ist. Wir sollten selbst bestimmen, wie das Geld am besten vor Ort eingesetzt wird – das weiß weder die EU, noch können es die Landesbehörden wissen. Dort heißt es immer: „Fügt euch der gängigen Praxis!  Wir kontrollieren die Regeln.“  Gut gemacht sieht anders aus.  Unsere Menschen und Kommunen  brauchen Selbstbestimmung statt die Enge der Zwänge.  Mehr Lust auf Engagement und Entfaltung gehören intensiv unterstützt. Vergaberecht und Buchhaltung muss es geben, keine Frage. Aber die Menschen einer Region sind doch niemals kollektive Gauner. Im Gegenteil ! 

Die Folgen eines wachsenden Lenkungs- und Kontrollwahns können böse sein.  Kein Wunder für mich, dass in den ostdeutschen Bundesländern gerade auch wieder radikale Ideen Konjunktur haben. Die Menschen in den ländlichen Räumen sind Wendeverlierer! Langsam formt sich eine Erkenntnis auch bei den bisher Etablierten. „Wir haben uns nicht genug um die Regionen gekümmert“, hieß es häufig nach den letzten Wahlen. Genau! Habt ihr nicht! Viele Menschen denken inzwischen destruktiv, weil zu vieles in die Hose gegangen ist. Okay, wir haben jetzt alle Farbfernseher, Fernreisen und bunte Autos  – aber wo ist die Dorfgemeinschaft, wo ist das soziale Heimatgefühl abgeblieben.  Zu viele Landbewohner empfinden das:  Wir auf dem Land sind die Gekniffenen. Und scheinbar kümmert es keinen. Die Zahl der Enttäuschten wird weiter ansteigen, wenn man nicht bald auf die mutigen, konstruktiven Menschen vor Ort baut und sie in ihrem lokalen Umfeld machen lässt. Dann wird das hilflose Weiterso schnell zur Gefahr für unser friedliches Miteinander.  

Unsere Regionen, Orte und Menschen haben maximale Vielfalt zu bieten.  Lasst uns diese Schätze sichtbar machen und eigene Lösungen praktizieren. 

Lasst uns die eigenen Hüte aufsetzen.

 

„Man ist dazu verdammt, Erfolge zu produzieren“

Wie entzündet man Menschen in einer Gemeinde, um sie in die Zukunft zu führen? Kaum einer weiß das besser als Michael Sack. Der langjährige Ex-Bürgermeister von Loitz und heutige Landrat von Vorpommern-Greifswald über die Bedeutung von Erntedankfesten als Leuchttürme, zu viel Bürokratie und Regionalbudgets als freie Gestaltungsmasse.

Wie entzündet man Menschen in einer Gemeinde, um sie in die Zukunft zu führen? Kaum einer weiß das besser als Michael Sack. Der langjährige Ex-Bürgermeister von Loitz und heutige Landrat von Vorpommern-Greifswald über die Bedeutung von Erntedankfesten als Leuchttürme, zu viel Bürokratie und Regionalbudgets als freie Gestaltungsmasse.

Herr Sack, Ihr Herausforderer bei der Bürgermeisterwahl 2017 in Loitz wollte als erste Amtshandlung eine Gasse nach Ihnen benennen. Jetzt sind sie Landrat. Hat Ihre Nachfolgerin das umgesetzt?

Michael Sack (lacht): Nein, es gibt noch keine Sack-Gasse in Loitz.

Sie müssen in Ihrer achtjährigen Amtszeit aber doch einiges richtig gemacht haben.

Als ich das Amt 2010 übernahm, habe ich in meiner Antrittsrede gesagt: Wenn wir diese Region nach vorne bringen wollen, wird es in den nächsten Jahren nicht mehr darauf ankommen, wie viele Straßen wir sanieren und wie viele Häuser wir bauen, sondern wir müssen unsere Menschen fit für die Zukunft machen. Wir müssen dafür sorgen, dass sie verstehen, dass sie alleine das Glück ihrer Region in den Händen halten. Mein Credo war: Wenn sie Ideen haben, kreativ sind und etwas voranbringen wollen, dann wird sich die Stadt und diese Region entwickeln. 

Ein echter Perspektivenwechsel also?

Ja. Ich habe unseren Menschen gesagt, dass wir endlich aufhören müssen darüber nachzudenken und zu jammern, wie viele Leute in den vergangenen zwanzig Jahren weggezogen sind. Immerhin hatten wir bis 2010 dreißig Prozent der Einwohner verloren. Wir müssen vielmehr darüber nachdenken, wie wir die Einwohner zurückbekommen. Also: Ärmel hochkrempeln, besser werden, Leute wieder zurückholen, die uns verlassen haben. Ich war überzeugt: Mit dieser Haltung schaffen wir eine positive Ausstrahlung – und nur, wenn wir nach außen strahlen, werden wir andere für uns begeistern können.

Woher kommt diese zupackende, positive Herangehensweise?

Von meinem Elternhaus bin ich es seit jeher gewohnt, nicht zu jammern, sondern zu machen. Anpacken und los geht’s. Auf wen oder was sollen wir warten? Die zentrale Frage war damals: Wie bekomme ich meine Leute, meine Region ein Stück weit wieder aufgerichtet? Wie gebe ich den Menschen Hoffnung und Kraft anzupacken?

Hilfe bekamen Sie damals vom sogenannten Bundesprojekt MORO, Modellvorhaben der Raumordnung.

Darum hatten wir uns beworben. Es ging darum, eine Datenbasis und eine Grundstrategie zu bekommen: Wo sind unsere Stärken, wo sind unsere Schwächen, wo können wir uns zukünftig entwickeln? Eine Generalinventur also. Und da gab es einen ganz wichtigen Augenblick. Ein Institut hatte die Bevölkerungsentwicklung bei uns hochgerechnet und die Prognose war, dass wir auch bis 2030 noch einmal 30 Prozent der Menschen verlieren werden. Als das Ergebnis im Amtsausschuss vorgestellt wurde, war es so still, dass man eine Nadel hätte fallen hören können. Es war ein Schock. Uns allen war zweierlei klar: Zum einen müssen wir uns darauf einrichten, dass wir weniger und im Durchschnitt älter werden. Zum anderen müssen wir alles tun, damit die Entwicklung nicht so durchschlagend wird. Also haben wir losgelegt.

Wie genau?

Wir haben Projekte ausgelobt und angeschoben, die bis heute Bestand haben. Da entstand zum Beispiel der Kultur-Konsum in Loitz, der heute bis zu 170 Veranstaltungen im Jahr organisiert, oder der Dorfge(h)dankenweg in Görmin. Unsere Aufgabe als Amt war es, die Leute zusammen zu holen, die etwas bewegen wollten, und dann das Geld zu besorgen, damit sie auch ins Machen kamen.

Woher kam das Geld?

Wir als Gemeinde hatten natürlich keins, aber da half uns eben das MORO-Projekt, einen Anschub zu finanzieren. Das Projekt war eine tolle Chance für uns, obwohl wir viel zu klein waren und man uns nicht zugetraut hat, dass wir die Arbeit auch schaffen. Und natürlich war es hilfreich, dass ich als Kreistagspräsident auch Zugang zu den nächsthöheren Ebenen der Politik hatte. Das war eine Phase, in der wir ganz viel gelernt haben, das hat uns inhaltlich viel weitergebracht.

Die Rahmenbedingungen sind das eine. Aber wie haben Sie die Menschen ins Engagement bekommen?

In Loitz und seinen Gemeinden gab es schon immer viel Engagement, auch zur DDR-Zeit. Und das war immer noch da, hat aber etwas geschlafen, obwohl es bei 4.500 Einwohnern 40 Vereine gibt. Aber das Engagement war wenig kanalisiert und gehoben. Da half uns neben MORO das Landes-Erntedankfest Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2013. Das war noch einmal eine Zündung. Nachdem die Gemeinde, die das Fest eigentlich ausrichten sollte, abgesagt hatte, habe ich in meinem jugendlichen Leichtsinn gesagt: Klar machen wir das Fest! Als es dann in die Planung ging, wurden die Herausforderungen immer größer: Sicherheitskonzept, notärztliche Versorgung, Abwasser-Plan – das war eine ganze Menge und alle mussten mitmachen. Und wenn man viele Menschen an Bord holt, muss es eine gute Organisation geben, also klare Hierarchien, klare Entscheidungswege, klare Kompetenzen. Kurz: Man muss verlässliche, beratende Strukturen schaffen. Wir haben das Fest in einer wunderbaren Art und Weise hinbekommen. Und das hat in der Stadt einen Ruck gegeben.

Waren denn alle gleich mit dabei?

Oh nein. Beim ersten Treffen stand ich mit der Feuerwehr allein auf dem Festplatz, niemand war da. Also habe ich den Bürgern ein wenig ins Gewissen geredet: Liebe Leute, wollen wir uns hier so präsentieren?! Im Endeffekt fällt das auf uns alle zurück. Und wir bedienen das Klischee, dass jeder über Loitz hat: alte Häuser, nichts los, keiner kümmert sich. Das hat ein bisschen an der Ehre gekratzt. Und am Ende ist das so rund gelaufen und hat uns das allen großen Spaß gemacht.

Liebe Leute, wollen wir uns hier so präsentieren?! Im Endeffekt fällt das auf uns alle zurück.

Michael Sack

Ja, die Bürger der Stadt haben etwas auf die Beine gestellt, das man ihnen nicht zugetraut hat. Man braucht einen Leuchtturm, um Engagement anstoßen zu können. Die Loitzer haben danach gesagt: Wenn wir alle anpacken, dann passiert hier richtig was, dann sind wir richtig gut. An diesen Erfolg konnten wir nach 2013 immer wieder anknüpfen. Ich sage immer: Man ist dazu verdammt, Erfolge zu produzieren. Bei Misserfolgen gehen einem die Leute von der Fahne. 

Viele sagen, dass auch Anerkennung elementar ist.

Das ist etwas, was die meisten gar nicht wollen. Es geht vielmehr um Wertschätzung. Dass man als Bürgermeister, als Verantwortlicher da ist, sich sehen lässt, bei Themen und Problemlagen immer ansprechbar ist. Die Menschen erwarten nicht, dass Sie vor versammelter Mannschaft hochgelobt werden. Das muss man auch tun, aber das ist nie die Erwartungshaltung. 

Ist Engagement auf dem Land schwieriger als in der Stadt?

Das weiß ich nicht, aber es unterscheidet sich in einem zentralen Punkt: Es gibt in den Städten eine Fülle von sozialen Dienstleistungen der Daseinsfürsorge – auf dem Land nicht. Diese Lücke müssen die Freiwilligen schließen. Und sei es nur das Einkaufen für die Nachbarin, das Mitnehmen zum Arzt, die Kinder von der Schule zum Verein bringen. Das ist ein leises Engagement, über das niemand redet und für Städter gar nicht sichtbar ist. Und immer wichtiger wird.

Die Kommunen sind also mehr als die Metropolen auf die Hilfe Ihrer Bürger angewiesen. Braucht es da nicht eine Strategie, wie man sie dauerhaft gewährleisten kann?

Ich glaube, dass wir die hauptamtlichen Strukturen stärken müssen, um Ehrenamt zu ermöglichen. Auf Landkreisebene werden wir im Rahmen eines Projekts des Bundeslandwirtschaftsministeriums Anfang 2020 drei Mitarbeiter für drei Jahre einstellen, die für die Ehrenamtler, Gemeinden und Vereine den ganzen Papierkrieg übernehmen, also Projektbeantragungen, die ganze Bürokratie bis hin zur Klärung der Projektfinanzierung. Das machen wir als kostenlose Dienstleistung. Damit gewährleisten wir Professionalität, mehr Erfolg bei Anträgen und mehr Freiraum für die Engagierten – denn die haben sich ja einem Thema gewidmet, nicht dem Papierkram.

Gibt es dafür ein Vorbild?

Das haben wir uns in Polen abgeguckt. Die Stadt Swinemünde auf Usedom hat zum Beispiel mehrere solcher Projektschreiber. Das Prinzip ist allerdings ein wenig anders: Diese Dienstleister werden daran gemessen, wieviel Erfolg sie bei der Akquise von Fördermitteln haben.

Planen Sie das auch?

Nein. Wir müssen das sicher erst einmal üben, das braucht eine Anlaufphase. Wenn die drei Kollegen da sind, werden wir gemeinsam mit der Stiftung Ehrenamt auf eine Werbetour gehen. Und weil das zunächst eine Lernphase ist, sind die neuen Kollegen strukturell auch direkt bei mir angesiedelt. Ich muss immer ein Gefühl dafür haben, wie es so läuft, damit ich steuern kann.

Glauben Sie, dass sich der Erfolg von Loitz damit leichter duplizieren lässt?

Ich glaube nicht, das man Erfolg einfach übertragen kann. Man kann sich aber anschauen, warum einige Dinge gelingen und einige nicht. Wir haben 138 Gemeinden hier, das sind auch 138 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, und die ticken natürlich ganz unterschiedlich. Bei einigen läuft es so ähnlich wie in Loitz: Da geht einer vorweg mit einer aktiven Gemeindevertretung, die sind agil, organisieren Dorffeste, die kümmern sich, die ziehen Leute an. Aber es gibt auch Orte, in denen zwischen Gemeindevertretung und Bürgermeister die Chemie nicht stimmt, wo sich innerhalb der Gemeindevertretung Gräben auftun, wo immer nach einem Grund gesucht wird, warum Dinge nicht funktionieren.

Die Lösungen für die Probleme der Stadt findet man nur im Land.

Michael Sack

Was können Sie da als Landrat tun?

Ich kann nun schauen, wer etwas bewegen will und meine Unterstützung braucht. Wer nichts bewegen will, den werde ich auch nicht dazu hinkriegen. Da muss ich meine Kraft sinnvoll einsetzen.

Zum Beispiel auch in den Abbau von zu viel Bürokratie?

Das ist sicherlich ein Thema. Ein Beispiel: Bei der Projekt-Förderung im Grenzgebiet müssen Vereine oder Gemeinden erst einmal in Vorleistung gehen, führen also das Projekt erst einmal durch und können dann erst das Geld dafür abrufen. Das ist natürlich hochgradig risikobehaftet, daran scheitern ganz viele Projekte. Man bringt möglicherweise seinen Verein in Gefahr und muss auch noch den Kopf dafür hinhalten. Das ist absurd. Und dann kommt ein so umfangreiches Beantragungsverfahren hinzu, dass viele es einfach lassen. Das muss deutlich besser werden.

Gibt es weitere Stellschrauben?

Ja, die Rolle der Finanzämter. Die haben derzeit einen schärferen Blick auf das Thema Gemeinnützigkeit. Weil wir aber keine Volljuristen in den Vereinen sitzen haben, sollte man den Druck dort wieder etwas rausnehmen. Natürlich muss rechtlich alles sauber sein, aber die Frage muss doch erlaubt sein: Mache ich mit einem scharfen fiskalischen Blick nicht viel kaputt im Engagement vor Ort? Das muss abgewogen werden.

Das klingt nach Landesebene.

Natürlich. Mit dem Staatssekretär im Finanzministerium habe ich gerade das Thema Ehrenamt und Gemeinnützigkeit lange diskutiert, mit dem Staatssekretär im Wirtschaftsministerium das ganze Thema Förderung in der Grenzregion. Als Landrat sehe ich mich in der Rolle, diese Themen auf die Landesebene zu transportieren.

Auch das Thema mehr finanzielle Mittel für Engagement in den Kommunen?

Wir haben eine Großzahl von Gemeinden, denen das Wasser bis zum Hals steht. Vielen fehlt jeglicher Mut, Ideen zu entwickeln, weil sie davon ausgehen, dass sie es vor dem Hintergrund der klammen Kassen ohnehin nicht umgesetzt kriegen. Wenn wir den Gemeinden wieder Verantwortung für ihr Gemeindegebiet und ihnen das dafür notwendige Geld geben, über das sie frei entscheiden können, dann wäre das ein wichtiger Schritt. Die große Frage dahinter ist: Sind die Fördermittelprogramme auf die wahren Bedarfe abgestimmt? Häufig sind sie so eng geschrieben, dass man sich verbiegen muss, um ans Geld zu kommen. Ich würde mir wünschen, dass wir mehr in Richtung Regionalbudgets kommen, über die man frei verfügen kann, also Gestaltungsmasse hat.

Ist Digitalisierung für Sie so wichtig, wie alle immer sagen oder nur einer von vielen anderen wichtigen Bausteinen für die Entwicklung des ländlichen Raums?

Es ist ein essenzieller Baustein. Wir werden den ländlichen Raum verlieren, wenn wir ihn nicht digitalisieren. Früher waren Dörfer Arbeits- und Wohnort der Bauern. Heute findet man die kaum noch. Die Höfe sind zwar bewohnt, aber nicht von Bauern oder von in der Landwirtschaft tätigen Menschen. Das heißt: Das Dorf hat seine Aufgabe als Arbeitsort verloren. Deshalb müssen wir es schaffen, den Dörfern wieder den Charakter des Arbeitsortes zu geben, und diese Chance haben wir mit der Digitalisierung. Wenn das gelingt, mache ich mir über den ländlichen Raum überhaupt keine Sorgen. Denn dann hat der ländliche Raum einen großen Vorteil gegenüber den Ballungsräumen.

Das müssen Sie erklären.

Die Städte werden ihre Probleme wie Wohnungsknappheit oder zu viel Verkehr nicht in den Griff bekommen. Die Lage dort wird sich verschärfen – und die Lösungen findet man nur im Land. Und das müssen wir gut gestalten, wozu auch die Digitalisierung gehört. Damit werden wir attraktiver für alle, die bei der Erbringung von Dienstleistungen ortsunabhängig arbeiten können – für Menschen der Kreativwirtschaft, für Softwareentwickler, Konzepteschreiber und Strategieentwickler. An die will ich ran! Der ländliche Raum mit Wasser, Wald und weitem Horizont bietet Perspektiven, die für Kreative doch ein Segen sind, weshalb Co-Working-Räume im ländlichen Raum ein echt großes Thema sind.

Klingt, als hätten Sie noch viel vor. Haben Sie jemals bereut, aus Loitz fortgegangen und heute Landrat zu sein?

Ich bin mit Herz und Seele Bürgermeister gewesen, also richtig gerne. Ich habe den Wechsel aber nie bereut. Mich hat diese große Aufgabe gereizt. Es war die richtige Entscheidung.


Der 1973 in Demmin geborene und bei Jarmen aufgewachsene Michael Sack lernte Bauzeichner und studierte Bauingenieurwesen in Weimar. Die Sehnsucht nach „Wind und Wasser“ und natürlich seiner in Loitz lebenden Frau zogen ihn zurück in die Heimat. Politisch hatte er nach eigenem Bekunden „gar keine Ambitionen“, trotzdem trat er in die CDU ein und bei den Kommunalwahlen 2009 an, weil „sich in Loitz nichts bewegte“. 2010 wurde er zum Bürgermeister gewählt und nach überaus erfolgreicher Arbeit sieben Jahre später im Amt bestätigt. Gleichzeitig war er zwischen 2011 und 2018 Kreistagspräsident, was ihm tiefe Einblicke auf die Landkreisebene verschaffte. Seit Oktober 2018 arbeitet er nun als Landrat des Landkreises Vorpommern-Greifswald.

Interview: Thomas Friemel

Reise ins Neuland

Wer sich ein eigenes Bild von innovativen Projekten im ländlichen Raum machen möchte, sollte seine Koffer packen. Mit dem Verein Neuland gewinnen e.V. können Neugierige jetzt die Land-Pioniere besuchen. Wir haben sie begleitet – und Orte entdeckt, an denen das Leben zurückgekehrt ist.

Wer sich ein eigenes Bild von innovativen Projekten im ländlichen Raum machen möchte, sollte seine Koffer packen. Mit dem Verein Neuland gewinnen e.V.
 können Neugierige jetzt die Land-Pioniere besuchen. Wir haben sie begleitet – und Orte entdeckt, an denen das Leben zurückgekehrt ist.

Fotos: Robert Bosch Stiftung/Jörg Gläscher

Lernen bis die Funken fliegen

Schmieden, schweißen, malen, meißeln, hämmern, schnitzen, löten – es gibt wohl kaum ein Handwerk, das Kinder und Erwachsene im offenen Werkstatthaus in Qualitz nicht lernen können. Es ist ein fröhliches, belebtes Haus, dessen Türen für alle offen stehen. Im Mittelpunkt steht das gemeinsame Lernen von neuen Fertigkeiten – unabhängig von Alter und Vorwissen. Und das sogar täglich. Das Angebot umfasst regelmäßige Kurse, Vorträge, Workshops, einen Mathekreis, gemeinsames Singen, Krabbelgruppen, Waldtage und eine offene Werkstatt. Insgesamt zwanzig Stunden pro Woche. Für ein Dorf mit 380 Einwohnern ist das ziemlich viel.
Barbara Wetzel ist eine der Gründerinnen des Allerhand e.V., dem Verein, der die Werkstatt betreibt. „Uns war es wichtig, permanentes Tun aufs Land zu bringen. Kein Blitzlicht, sondern ein stetiges Angebot direkt vor der Haustür“, erklärt die gelernte Bildhauerin. Bevor die Werkstatt 2014 in die Räumlichkeiten eines zuvor leerstehenden Hofes gezogen ist, mussten Eltern ihre Kinder für Freizeitaktivitäten bis ins dreißig Kilometer entfernte Güstrow fahren – vorausgesetzt sie hatten Zeit dafür. Deshalb ist das Haus noch viel mehr als ein Lernort: Es ermöglicht unabhängig vom finanziellen Hintergrund allen die Teilnahme und sorgt so für ein besseres Miteinander im Dorf. Auch die Schulen und Kitas haben inzwischen den Wert erkannt und integrieren das Vereinsangebot in den Lehrplan. Die Kurse wiederum sind auf den Busfahrplan abgestimmt, damit auch die umliegenden Ortschaften vom Angebot profitieren. Das hat sich herumgesprochen. Barbara Wetzel: „Es sind schon junge Familien nach Qualitz gezogen, weil es unser Angebot gibt.“

Bauen für die Seele

Manche Leute haben einen grünen Daumen. Klaus Hirrich hat zwei grüne Hände. Weil die Landschaft in und um die Dörfer Wangelin und Gnevsdorf „so leer geräumt aussah“, begann der gelernte Schlosser in den neunziger Jahren mit vielen Mitstreitern Bäume zu pflanzen. Und hörte nicht mehr damit auf: 50.000 müssen es mittlerweile sein, sagt er. Im Schatten der gepflanzten Bäume blüht der Wangeliner Garten mit dem größten Kräutergarten Mecklenburgs und 900 Pflanzensorten auf 15.000 Quadratmetern. Bis zu 9.000 Touristen kommen dafür pro Jahr ins Dorf. Doch nicht nur deswegen: Ein Holzschuppen wurde zum Tauschhaus umfunktioniert, eine Filzmanufaktur entstand und Obst und Kräuter werden zu besonderen kulinarischen Spezialitäten weiter verarbeitet.

International bekannt ist das Dorf westlich des Plauer Sees inzwischen aber vor allem für die Lehmbauschule, in der sich Gäste aus ganz Europa und darüber hinaus ausbilden lassen. Auch interessierte Laien können sich in Schnupperkursen ausprobieren und lernen, was Bauen mit Lehm für die Seele bedeutet: Ressourcen schonendes und gleichzeitig ästhetisches Bauen. Träger all dieser Aktivitäten ist der Verein FAL. Die Abkürzung steht für Förderung ökologisch-ökonomisch angemessener Lebensverhältnisse. Und darum geht es dem Verein: Möglichst vielen Menschen in der Region im Einklang mit der Natur einen Platz zum Leben und Wohnen schenken. Nach der Wende bedeutete das vor allem, Beschäftigung zu schaffen, um Abwanderung zu vermeiden. Heute bedeutet es: Menschen, die durch das vielfältige Angebot in Wangelin angelockt werden, die Möglichkeit zu eröffnen, hier neu anzufangen.

Stadt auf dem Land – heute und gestern

Die Idee hinter dem sozialistischen Musterdorf Mestlin könnte aus der Gegenwart stammen: Die Urbanisierung des Landes, Landflucht vermeiden, den ländlichen Raum lebenswert gestalten. In den 50er Jahren nahm die DDR dafür viel Geld in die Hand. Den Dorfbewohnern sollte es an nichts fehlen: Krankenhaus, Restaurant, Geschäfte, moderne Wohnungen, Kindergarten, Oberschule – und ein wohnortnahes Kulturhaus. Das Konzept ging auf: In Mestlin blühte das Leben und das Kulturhaus war der Mittelpunkt des Ortes. 180 Musterdörfer dieser Art sollten in der DDR entstehen – aus Geldmangel blieb Mestlin das einzige. Nach der Wende gab es auch hier keine Mittel mehr und das Kulturhaus musste schließen.
Seit 2008 bemüht sich der Verein Denkmal Kultur Mestlin rund um Claudia Stauß, den Prachtbau wieder zum Treffpunkt für die Menschen zu machen. Dafür mussten die gelernte Bühnenmeisterin und ihre Mitstreiter fast bei null anfangen: Die vorherigen Pächter hatten alles Mobiliar und Equipment mitgenommen, Leitungen waren kaputtgefroren. Mit Hilfe von regelmäßigen Subbotniks – ehrenamtlichen Arbeitseinsätzen an Samstag (subbota ist russisch und heißt Samstag) – konnten bereits 2008 wieder Veranstaltungen stattfinden, 2009 begannen parallel die Umbauarbeiten, Schritt für Schritt bis heute. Insgesamt sind schon 1,5 Millionen Euro Fördermittel verbaut. Für einen ehrenamtlichen Verein eine große Summe. Seit 2011 ist das Gebäude als national bedeutsames Denkmal anerkannt. Wer über Kulturpolitik im ländlichen Raum spricht, kommt an Mestlin mittlerweile nicht mehr vorbei. Und dass alles nur durch die Beharrlichkeit einer Kerngruppe von 15 Ehrenamtlichen.

Dorfgestaltung mit Trompeten und Herz

Um zu verstehen was im 478- Seelenort Witzin gerade passiert, gibt es eine schöne Geschichte: 2012 musste der Kindergarten wegen Unwirtschaftlichkeit schließen. Ein Jahr später öffnete er wieder mit nur einem Kind. Inzwischen sind es 39 Kinder. Die Gemeinde wächst, vor allem durch junge Familien. Grund dafür sind mutige Vereine und der unkonventionelle Bürgermeister Hans Hüller, der sich immer wieder Neues für sein Dorf einfallen lässt. 2015 frischte der gelernte Bäcker und Programmierer seine Trompetenkenntnisse auf und gründete ein Dorforchester. Um für Nachwuchs in den Musikgruppen zu sorgen, organisierte er 60 Trompeten und Gitarren und glaubte an die Neugier der Kinder. Der Plan ging auf: Die „Witziner Dorfmusikanten“ wuchsen auf 70 Musiker an. Manche der Kinder haben wieder aufgegeben, aber Hans Hüller ist sich sicher, dass der Samen gut gesät ist. Schließlich gibt es noch andere Aktivitäten, bei denen sie mitmachen können: Sich beim Heimatquizabend mit den älteren Dorfbewohnern messen oder beim Brotbacken für das nächste Dorffest mit anpacken. 

Ideen für Witzin gehen dem Bürgermeister nicht aus. Seine neueste Vision: Witzin zum Bioenergiedorf machen. Dafür testet er gerade eine Solaranlage, Marke Eigenbau. Wenn die funktioniert, kann sie zur Blaupause für andere Haushalte werden. Auf die Frage, was das Geheimnis von Witzin ist, weiß er schnell eine Antwort: „Et löpt einfach. Miteinander reden, kurze Wege nutzen. Und wenn Worte nicht mehr reichen, dann müssen Taten sprechen.“


Neuland gewinnen e.V.

Es gibt Menschen, die mit ihrem Enthusiasmus anstecken, die verrückt genug sind, Neues zu wagen, wild entschlossen, ihr Lebensumfeld mit zu gestalten, Lösungen für Herausforderungen des ländlichen Raums finden und damit ganz nebenbei Beispiele für die Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft liefern. Seit 2017 bietet der Verein „Neuland gewinnen“ diesen Menschen ein Dach und gibt dem vielfältigen Engagement eine gemeinsame und starke Stimme im gesellschaftlichen Diskurs. Ab 2020 bietet er auch Lernreisen zu diesen Werkstätten des guten Lebens an. 

Mehr Informationen zum Verein und den Lernreisen unter www.neulandgewinner.de/verein.html oder per Mail unter lernreisen@neulandgewinnen.org

Die Neuvermessung des Landes

Grobe und teils veraltete Statistiken zeichnen ein nur unzureichendes Bild vom Leben auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern. Das Projekt „Landinventur“ will das ändern. Seine Methode: Bürgerwissenschaft. Sein Ziel: Dörfer zurück auf die Landkarte bringen.

Grobe und teils veraltete Statistiken zeichnen ein nur unzureichendes Bild vom Leben auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern. Das Projekt „Landinventur“ will das ändern. Seine Methode: Bürgerwissenschaft. Sein Ziel: Dörfer zurück auf die Landkarte bringen.

So eine Inventur ist eine knifflige und zeitraubende Angelegenheit. Wer eine Bilanz erstellt, muss ziemlich genau hinschauen, was alles erfasst und bewertet werden muss, schließlich geht es qua Ursprung des Worts aus dem Lateinischen um die „Gesamtheit des Gefundenen“. Für ein ganzes Bundesland ist das eine wahre Herkulesaufgabe. Die Ministerien und sonstigen Stellen der öffentlichen Hand behelfen sich da insbesondere mit den statistischen Daten, die erhoben werden – so weiß man zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern sehr genau, dass von den rund 2,33 Millionen Hektar Fläche die Siedlungen knapp 129.000 Hektar ausmachen, dass Neustrelitz mit 74 Meter über dem Meeresspiegel die „Zugspitze“ des Bundeslands ist und dass Ende 2018 rund 1,6 Millionen Menschen im Nordosten Deutschlands lebten.

Aber reicht das? Wer sich die Daten einmal genauer ansieht, stellt schnell fest, dass die Lupe blinde Flecken hat. Die Fokussierung auf Metropolen und Wachstumszentren hat den ländlichen Raum zunehmend auch in seiner Erfassung abgehängt. Wie genau sieht es also eigentlich in den vielen Dörfern in Mecklenburg-Vorpommern aus? Schließlich machen die Gemeinden bis tausend Einwohnern gut 68 Prozent aller Siedlungen im Bundesland aus. Und seit 2014 verzeichnet das Land sogar wieder mehr Zuzügler aus den großen Städten als Abwanderer in die Metropolen. Im ländlichen Raum scheint es also etwas zu geben, was sich der statistischen Wahrnehmung anhand der klassischen demographischen, sozialstrukturellen und ökonomischen Indikatoren bisher entzogen hat. Doch was genau ist das? Es ist also dringend an der Zeit, eine präzisere Inventur des Landes vorzunehmen. Wie gut, dass es da Eleonore Harmel und ihr Team gibt.

„Wir wollen Vielfalt zeigen“

Eleonore Harmel vom Thünen-Institut für Regionalentwicklung leitet ein Projekt mit dem Namen „Landinventur“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wird. Das Ziel: Die Vielfalt der Dörfer wieder sichtbar machen. „Forschung, Politik und Planung wissen zu wenig über die Situation vor Ort in den einzelnen Dörfern. Statistiken bilden nur die Fläche ab, die Daten sind teils veraltet, während sich das Land teils dynamisch entwickelt“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Über die kleinste gesellschaftliche Einheit, das Dorf, wissen wir eigentlich sehr wenig. Genau hier will die Landinventur das Bild des ländlichen Raums ergänzen, seine Vielfalt zeigen.“

Das Team aus Gestaltern, Raumforschern, Sozialwissenschaftlern und Programmierern rund um Frau Harmel hat dazu ein Jahr lang eine umfangreiche digitale Plattform (landinventur.de) entwickelt, auf der die Bewohner vor Ort „ihr“ Dorf in etwa 30 Minuten kartieren können. Zugänglich ist die Auswertung der Daten jedem. So erfährt man etwa mit einem Klick, dass in Groß Wüstenfelde im Herzen des Bundeslandes 350 Einwohner leben, von denen 200 „eigentlich immer“ vor Ort sind. Dass seit 1990 immer mehr Kinder geboren werden und seit 2000 Menschen zuziehen. Dass es dort entgegen aller Klischees keinen Leerstand gibt. Dass es dort 30 Traktoren gibt, dass das Internet eine 4G-Qualität hat und dass nicht einmal am Tag ein Bus dort hält. Aber auch: Dass es eine Vielzahl von Menschen gibt, die sich in der Jagdgenossenschaft, in der Blaskapelle, im Kulturverein oder bei den Landfrauen engagieren. Und dass natürlich gefeiert wird: bei Osterfeuer, Karneval oder Silvesterball.

„Wir wollen ein alltagsnahes Bild des ländlichen Raums zeigen“, so Harmel. Das geht nicht ohne Hilfe. Und hier hat sich das Team einen besonderen Clou ausgedacht – Stichwort Bürgerwissenschaft. Mit ihrer mobilen Forschungsstation, einem Wohnmobil, touren sie übers Land, stellen sich ins jeweilige Herz der Dörfer, lassen die Marquise herunter und kommen so mit den Menschen ins Gespräch. „Die Hemmschwelle wird über dieses Setting heruntergesetzt, die Leute sind interessiert und finden gut, was wir machen“, so Harmel. Viele geben gleich vor Ort ihr Wissen weiter, andere informieren sich, um die Daten dann selbst auf der Plattform einzutragen. „So werden sie als Dorfbotschafter zu Akteuren einer kollektiven Raumbeobachtung. Sie erleben das als Wertschätzung und korrigieren das Bild, das sie selber mitunter vom Leben in ihrem Ort haben.“

Daten als Chancen für den Raum

Wissenschaft an der Basis sozusagen. Der Bereich der Bürgerwissenschaften ist ein noch recht junger Zweig innerhalb der akademischen Welt, knüpft aber gleichzeitig an alte Erhebungsverfahren aus dem 19. Jahrhundert an, als man noch mit Papier und Stift über die Lande zog, um Daten zu ermitteln. Mithilfe der Digitalisierung sehen die Wissenschaftler hier nun eine Vielfalt neuer Möglichkeiten – nicht nur die Vereinfachung der Datenerhebung, sondern auch die Chance, die gesammelten Zahlen und Fakten mit bereits vorhanden Datensätzen zu verbinden und sie für bessere Planungsprozesse im ländlichen Raum nutzbar zu machen. Interessenten gibt es bereits: Das Biosphärenreservat Schaalsee würde gerne mit der Landinventur kooperieren. Und zudem ist dieses Projekt natürlich auch auf andere Bundesländer und Regionen übertragbar.

Bei der Landinventur steht man noch am Anfang. Mittlerweile sind über hundert Gemeinden auf der Plattform vertreten, tausende Daten verarbeitet und ansprechend aufbereitet worden. Gab es Überraschungen? „Für mich war es interessant zu sehen, wie viele Menschen sich außerhalb bestehender Strukturen zum Beispiel in Vereinen für ihr Dorf engagieren“, sagt Eleonore Harmel. „Rund ein Drittel der Aktiven braucht keinen festen Rahmen, sondern macht einfach.“ Zeit, dass sie sichtbar werden.

Thomas Friemel

Entbettete Dörfer

Wer die Gegenwart verstehen will, muss die Geschichte kennen. Das gilt auch für die Situation auf dem Land in Ostdeutschland. In ihrem Buch „Ländliche Verheißung“ analysiert das Autoren-Quartett Mathias Burke, Eleonore Harmel, Leon Jank und Sabeth Kerkhoff, welchen Anteil die DDR- und die Nachwende-Politik an der Misere im ländlichen Raum haben. Und wagt einen Blick nach vorne.

Wer die Gegenwart verstehen will, muss die Geschichte kennen. Das gilt auch für die Situation auf dem Land in Ostdeutschland. In ihrem Buch „Ländliche Verheißung“ analysiert das Autoren-Quartett Mathias Burke,Eleonore Harmel, Leon Jank und Sabeth Kerkhoff, welchen Anteil die DDR- und die Nachwende-Politik an der Misere im ländlichen Raum haben. Und wagt einen Blick nach vorne.

Um die aktuelle Lage des ländlichen Raumes in Ostdeutschland zu verstehen, lohnt ein Blick zurück zur Entwicklung des sozialistischen Dorfes in der DDR. Bis letztendlich 95 Prozent der Flächen von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) und Volkseigenen Gütern (VEG) bewirtschaftet wurden, vollzog sich die Umstrukturierung in vier Phasen: In der ersten Phase wurden ab 1945 agrarische Großgrundbesitzer im Zuge der Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone ohne Entschädigungen enteignet und das Land dem Staat bzw. in kleinen Parzellen an sogenannte Neubauern übertragen. In den Jahren 1948 bis 1952 versuchte man verstärkt, für Genossenschaften und Planwirtschaft in Dörfern zu werben, um damit die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft vorzubereiten, die schließlich bis 1960/1961 durchgesetzt wurde.

Bis zum Ende der DDR versuchte man schließlich in der vierten Phase stetig, auf eine Industrialisierung durch Konzentration und Spezialisierung der sozialistischen Landwirtschaft hinzuwirken, um die Produktivität deutlich steigern zu können. Dorfpolitik und -entwicklung wurden der Landwirtschaftspolitik untergeordnet, indem die kollektiven Betriebe die Gemeinden und deren Rolle in einer funktionsgeteilten Landwirtschaft dominierten.

Nach der Wende wurden diese vergesellschafteten Großstrukturen entsprechend dem westdeutschen Eigentumsrecht reorganisiert. Die LPGs wurden bis Ende 1991 vor die Entscheidung gestellt, sich entweder aufzulösen, Boden und Inventar an die ursprünglichen Eigentümer zurückzugeben oder sich in andere Rechtsformen nach westdeutschem Handelsrecht umzuwandeln. Was nach freier Wahl klingt, geriet für die Betroffenen oft zu einer unübersichtlichen und existenzbedrohenden Situation, die zu Vermögensauseinandersetzungen und umfangreichen Rückübertragungsverfahren führte. Nicht zuletzt sind die Streitigkeiten über diese Umwandlung noch heute in vielen Dörfern der Grund für Feindschaften oder Lagerbildung.

Rund 30 Prozent der LPGs wurden letztendlich aufgelöst, wenige wurden zu Familienunternehmen und der größte Teil der Flächen von agroindustriellen Großunternehmen übernommen. Das VEG-Land wurde im Gegensatz dazu direkt an die staatliche Treuhandanstalt zur Privatisierung übergeben. 1992 entstand die staatliche Bodenverwertungs- und Verwaltungs-GmbH (BVVG), welche die Privatisierung der Landwirtschaftsflächen anstelle der Treuhand übernahm. Mit dem Zusammenbruch und der kompletten Transformation der Agrarwirtschaft nach der Wende kam es zu einer Welle von Massenentlassungen und Arbeitslosigkeit.

Aktuell werden weitere Flächen von großen Finanzinvestoren als Anlageobjekte erworben.

In den folgenden 20 Jahren verkaufte die BVVG 1,3 Millionen Hektar Land- und Forstwirtschaftsflächen. Die noch verbliebenen 120.000 Hektar sollen bis 2025 privatisiert sein, davon rund 30 Prozent allein in Mecklenburg-Vorpommern. Die großbetrieblichen Strukturen der DDR bereiteten also bereits den Weg in eine Spirale aus steigenden Landpreisen, extremem Wettbewerb um die Flächen und den Zusammenschluss in immer größere Unternehmenseinheiten. So hat sich die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe (ab fünf Hektar) von 1991 bis 2016 – von knapp 450.000 auf rund 250.000 – fast halbiert. Die Explosion der Bodenpreise wird vor allem um das Jahr 2000 deutlich, da nach zehn Jahren oftmals die Pachtverträge erneuert bzw. die Flächen für einen Wiederverkauf ausgeschrieben werden. Hier gibt es Preissteigerungen von bis zu 150 Prozent, wodurch der durchschnittliche Hektarpreis in Ostdeutschland zwischen 2003 und 2017 von 3.800 Euro auf 15.626 Euro anstieg; teilweise wurden bereits 2013/14 schon Preise von über 36.000 Euro verzeichnet. Nicht von ungefähr spricht man von Landgrabbing in Ostdeutschland, da sich ein großer Teil der Agrarfläche in den Händen von wenigen westdeutschen Unternehmen befindet. Aktuell werden weitere Flächen von großen Finanzinvestoren als Anlageobjekte erworben. Klassische Bauern können bei diesen Preissteigerungen kaum noch mithalten; ein Neueinstieg ist nahezu unmöglich. Dieser Strukturwandel ist zu großen Teilen für die Abwärtsspirale Ostdeutschlands nach der Wende verantwortlich.

Die Landwirtschaft, welche die alten Siedlungsstrukturen in ländlichen Räumen primär hervorbrachte, beschäftigt immer weniger Menschen. Durch die Industrialisierung der landwirtschaftlichen Produktion können vier Arbeitskräfte heute bis zu 1.000 Hektar bewirtschaften. Bis 2030 soll die Landwirtschaft weitere 40 Prozent ihrer Arbeitsplätze
verlieren. Die überregionale, subventionierte und industrielle Agroindustrie hat
zu entbetteten Dörfern geführt; das heißt, sie sind von der umgebenden Landwirtschaft entkoppelt und profitieren weder von den Arbeitsplätzen noch
von den Gewinnen. Neben anderen Gründen hat auch dies zur Flucht aus dem ländlichen Raum geführt.

Als Folge der Abwanderung von Menschen mit guten Jobaussichten sowie durch Überalterung sinkt die Finanzkraft der privaten Haushalte und die Nahversorgung in ländlichen Regionen dünnt weiter aus. So entsteht eine Abwärtsspirale, welche die im Grundgesetz festgeschriebene Aufrechterhaltung gleichwertiger Lebensverhältnisse noch weiter erschwert.

Ländliche Verheißung

Mathias Burke, Eleonore Harmel, Leon Jank, Sabeth Kerkhoff
Ruby Press, 2019
19,90 Euro
ISBN: 978-3-944074-27-6

Was geht denn hier?

Stolpe an der Peene hat mit dem Etikett „Bilderbuch-Dorf“ kein Problem. Im Gegenteil, sie arbeiten daran, noch schöner, einladender, pittoresker zu werden. Für den aufstrebenden Tourismus im wild-romantischen Peenetal, zwischen Kummerower See und Ostsee, ist Stople ein Katalysator. Zwischen Orchideen, Bibern und Kanus hat ein Dorf seine Identität gefunden.

Stolpe an der Peene hat mit dem Etikett „Bilderbuch-Dorf“ kein Problem. Im Gegenteil, sie arbeiten daran, noch schöner, einladender, pittoresker zu werden. Für den aufstrebenden Tourismus im wild-romantischen Peenetal, zwischen Kummerower See und Ostsee, ist Stople ein Katalysator. Zwischen Orchideen, Bibern und Kanus hat ein Dorf seine Identität gefunden.

1. Die Skulpturen

Mönchsfiguren, aus Kupfer getrieben und alle mit einem verschmitzten Grinsen in Gesicht, als wären sie bei einem nicht ganz so schlimmen Streich erwischt worden: das ist der Stolper „Mönchsweg“. Für die Figuren des Bildhauers Eckhard Herrmann hat Bürgermeister Marcel Falk EU-För- dergelder aufgetrieben, was selbst kein schlechter Streich zu sein scheint.

In Stolpe stand einst das älteste und mächtigste Kloster Pommerns, seit langem nur noch eine Ruine. Die kleinen Kuttenträger erinnern von Ferne an das klösterliche Leben im 12. Jahrhundert, vor allem laden sie zum Erzählen von Geschichten ein: der am Fluss ringt mit einer Nixe und seinem zölibartären Gelöbnis, der am Fährkug hebt, schon etwas linkisch, den Krug. Und vor dem Gemeindehaus, das hier „Doerphus“ heißt, hat der Mönch einen kleinen Schlitz im Ohr. Ein Detail, das Marcel Falk nicht ungern auf sich selbst bezieht.

doerphus-stolpe.de

2. Hotel Gutshaus

„Eine herrschaftliche Auffahrt. Ein weitläufiger Park. Warme Lichter im Gutshaus.“ Verlockender kann man es nicht sagen, als die Webseite des Hotels „Gutshaus Stolpe“, das zur Luxuskette Relais & Chateau gehört. Das Haupthaus und viele immer noch stattliche Nebengebäude sind aufwändig restauriert, alles fügt sich in den historisierenden Glanz des Dorfes. „Ein Bilderbuchdorf“, findet Hoteldirektorin Franziska Grimm.

Der Besitzer Kurt Stürken, Jahrgang 1935, hatte die ersten zehn Jahre seines Lebens auf dem Gut verbracht, ehe die Familie floh, der Hof enteignet und zu einem VEG (Volkseigenes Gut) wurde. 1994 kaufte Stürken, inzwischen Unternehmer in Geesthacht an der Elbe, das Gut zurück. Fügt sich auch im Binnenverhältnis alles so gut wie im optischen Eindruck? „Er hat viel investiert, nicht nur in das Gut, sondern auch in die Gemeinde“, sagt Franziska Grimm, „das ist ein Geben und Nehmen.“ Zudem sei Stürken nicht irgendein Investor, sondern einer „von hier“. Im Dorf leben noch Menschen, die für Stürkens Vater gearbeitet haben. „Stürken ist ein Glücksfall für das Dorf“, sagt Bürgermeister Marcel Falk.

Touristisch ziehen Dorf und Gut ohnehin an einem Strang. Oder, in diesem speziellen Fall, an einem Blasebalg: Die alte Dorfschmiede auf dem Gutsgelände soll reaktiviert werden, wahrscheinlich wird sie 2020 mit Unterstützung von EU-Fördergeldern umgebaut. Und das Hotel, für das Hochzeits-Gesellschaften kein unwesentlicher Umsatzfaktor sind, kann dort Eheringe schmieden lassen.

gutshaus-stolpe.de

3. Das Naturparkhaus

Warum jemand die Peene „Amazonas des Nordens“ nennt, wie es die Tourismuswerber der Gegend tun, ist auf den ersten Blick schwer zu erkennen. Obwohl, ein paar Ansatzpunkte gibt es: zuerst die Unzugänglichkeit. „Die Peene schützt sich selber“, sagt Frank Hennicke, Leiter des Naturparkhauses in Stolpe an der Peene. Die „tiefgründig vermoorte Niederung“ (so heißt das fachsprachlich) des Peenetals ist eines der größten Naturschutzgebiete Deutschlands, und abseits der vorgese- hen Wege kommt man nicht voran. Dann natürlich der Artenreichtum des Peenetals zwischen Kummerower See und Ostsee: Fischotter und Biber, Flussneunauge und Steinbeißer, Ostseeknabenkraut und Großer Feuerfalter.

„Wir empfehlen jedem, gleich am ersten Urlaubstag zu uns zu kommen, sagt Hennicke und meint das sehr ernst: „Die Leute wissen oft gar nicht, was sie wollen.“ In der Regel wollen sie dies, in absteigender Folge: Paddeln, Angeln, Orchideen sehen (15 Arten), Vögel, Biber und Fischotter. „Was anderswo eine Seltenheit oder ein Geheimtipp ist, gibt es hier Überfluss“, schwärmt Hennicke. Keine Bibersa- fari ohne Biber, keine Vogelschau ohne Adler. 66.000 Menschen besuchen jährlich den Naturpark, nicht wenig für eine Gegend, wo der Tourismus mit dem ersten Kanuver- leih 2003 überhaupt erst einsetzte.

Sorgen machen eigentlich nur die Hausboote, inzwischen mehr als 50. Und auch nicht an sich, sondern weil die Nutzer einen Hang zu „Remmidemmi“ (Hennicke) haben. Das mögen Biber und Adler nicht, und die meisten anderen Besucher des Peenetals auch nicht.

Das Naturparkhaus im kleinen Stolpe Zentrum. „So ein Besucherzentrum braucht Ambiente“, sagt Hennicke. Und wenn sie in Stolpe an der Peene etwas reichlich haben, dann das: Ambiente.

naturpark-flusslandschaft-peenetal.de

4. Klostergarten

Die weithin bekannte Fähre über die Peene in Stolpe erfordert den ganzen Mann, jedenfalls in der Saison. Pro Überfahrt muss Fähr- mann Christian Hahn 400 bis 500 Mal die Kurbel drehen, um das handbetrie- bene Gefährt mit Personen und Fahrrädern über den Fluss zu beför- dern (oder er nimmt, weniger roman- tisch, den Motor zur Hilfe). Wenn er das gerade nicht muss – morgens, und in der Nebensaison, kümmert er sich um den Klostergarten.

Der ist ansonsten ein Gemeinschaftsprojekt des Dorfs: zweimal im Jahr trifft man sich zur „Subbotnik“, einem gemeinsamen Arbeitseinsatz zu Pflege, Neuanpflanzung und Bestaunen des Gartens. Das Grundstück hatte die
Gemeinde gekauft, um einen Spielplatz zu bauen und daneben an die klösterliche Tradition von Stolpe anzuknüpfen. Die nahen Rudimente des Benediktinerklosters aus dem 13. Jahrhundert verleihen Kräutern und Blumen eine zusätzliche Aura.

„Es ist ein schönes Leben“

Dass ich auf dem Hof meiner Eltern alt werden will, stand immer fest. Seit über 500 Jahren hat meine Familie in Witzin den Hof bewirtschaftet, Generationen von Kindern großgezogen, auch ich bin hier mit einer Hausgeburt zur Welt gekommen.

Steckbrief

Name: Hannelore und Klaus Peter Husert
Alter: 72 und 75 Jahre
Wohnort heute: Witzin
Wohnort früher: Witzin
Tätigkeit: Veterinäringenieurin und Ingenieur für Landtechnik in Rente

Dass ich auf dem Hof meiner Eltern alt werden will, stand immer fest. Seit über 500 Jahren hat meine Familie in Witzin den Hof bewirtschaftet, Generationen von Kindern großgezogen, auch ich bin hier mit einer Hausgeburt zur Welt gekommen. Es waren keine reichen Menschen, aber anständige, die ein ordentliches Leben geführt haben. Dieses Erbe wollen mein Mann und ich weiterführen, für unsere Kinder,

Enkel und Urenkel erhalten. Vor kurzem habe ich meinen Jugendweihe- spruch wiedergefunden: „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.“ Das passt.

Auch mein Mann kommt von hier. Wir hatten schon den gleichen Schulweg. Erst sind wir ins 20 Kilometer entfernte Steinhagen gezogen, aber wollten irgendwann unser Leben auf dem Hof gestalten.

Dass wir schon mit der Wende diesen Schritt gegangen sind, war nicht geplant. Beruflich musste sich mein Mann nach der Wiedervereinigung umorientieren und konnte auf unserem Grundstück eine Firma für Hallenbau gründen. Heute führt sie einer unserer Söhne weiter.

Wenn wir in unserem Wintergarten sitzen, schauen wir auf eine zwei Hektar große Koppel mit 500 Jahre alten Eichen und Obstbäumen. Äpfel, Birnen, Kirschen – alles seltene Sorten. An unser Grundstück grenzen zwei Seen, dort können wir baden und angeln. Was will man mehr? Wir haben wirklich keinen Grund zu schimpfen. Uns geht es gut, es ist ein schönes Leben. Wir genießen die Ruhe und brauchen nichts darüber hinaus. Sicherlich hat sich in Witzin einiges geändert. Auch, wenn immer mehr junge Familien zurückkommen und wieder einiges in Bewegung kommt, Ärzte und Bäcker sind nur noch in den umliegenden Ortschaften mit dem Auto zu erreichen. Gut, dass wir noch mobil sind. Aber auch wenn nicht, wird sich immer eine Lösung finden. Da machen wir uns keine Sorgen.

Aufbruch in neue Welten

Im äußersten Nordosten des Landes blüht ein kleines Wunder. Auf dem Bio-Bauernhof Rothenklempenow ist ein „Campus der Kooperationen“ entstanden mit Food-Startups, Weltacker – und einer Vision, die das Dorf zusammenwachsen lässt.

Wer die Zukunft sehen will, muss an die Ränder des Realen gehen. Es geht über Kopfsteinpflaster an verfallenen Häusern, Höfen und Holzkreuzen am Wegesrand mit dem Namen Laura darauf vorbei und hinein in ein Dorf, an dessen Laternenpfählen Plakate zur „Bumsparty“ mit DJ Melody einladen. Wer dann noch die Dorfkirche hinter sich lässt, kommt schließlich an. Nicht nur am Rand des Dorfs. Sondern auch an den äußersten Rand Deutschlands. Und an den Rand zu einer anderen Welt.

Rothenklempenow. Nichtgeografen würden vielleicht sagen: in Deutschland ganz weit rechts oben. Polen und die Ostsee liegen in Spuckweite, es gibt ein Schloss im Fachwerkstil, den Fangelturm und sogar ein kleines Heimatmuseum, das von der über 800jährigen Geschichte erzählt – insbesondere von den vergangenen Jahrzehnten, als sich das Dorf Pionierort der DDR nennen durfte und hunderte Menschen hier in der LPG arbeiteten. Heute leben noch gut 600 Menschen hier. „Einige Familien blicken auf eine jahrhundertealte Geschichte allein hier im Dorf zurück“, sagt Tobias Keye und nickt Richtung Dorfstraße. „Sie sind das kulturelle Erbe, auf dem wir hier aufsetzen – ohne es zu ersetzen.“

Wenn man so will, ist Tobias Keye so etwas wie der Zukunftsmacher. Der ehemalige Schauspieler aus Düsseldorf hat sich früh der Nachhaltigkeit verschrieben und kam 2016 für die BioBoden Genossenschaft hierher, die auf dem alten LPG-Gelände ihren Sitz hat. Das noch junge Unternehmen kauft seit seinem Bestehen 2015 landwirtschaftliche Nutzflächen, um sie für die ökologische Bewirtschaftung zu sichern. Mittlerweile sind es über 60 Partnerhöfe, auf denen die Genossenschaft deutschlandweit engagiert ist und sie so auch dem Zugriff von Landspekulanten entzieht. Drei der BioBoden-Höfe liegen hier in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander: Neben dem Betrieb in Rothenklempenow sind das der Haffwiesenhof und das Landgut Seegrund. Insgesamt 2.500 Hektar Land, davon 60 Prozent Weide, 40 Prozent Acker. 1.500 Tiere sind hier zuhause, auf den Feldern gedeihen Getreide, Mais, Kartoffeln und Gemüse. Alles in Bioland-Qualität. Alles Teil einer großen Vision.

Denn BioBoden mit seinen drei Höfen, die sich für eine bessere Vermarktung zur Höfegemeinschaft Pommern zusammengeschlossen haben, sind gleichzeitig Teil und bilden den Rahmen für den „Campus der Kooperationen“, wie Keye den Ort bezeichnet. Bio-Waren erzeugen kann schließlich jeder. Sie aber als Herz zu verstehen, das viele andere Organe versorgt und damit ein neues Lebewesen schafft, können nur die wenigsten. Tobias Keye und seinen vielen anderen Mitstreitern gelingt es.

Wir wollen den Menschen ein Bewusstsein dafür vermitteln, woher die Dinge kommen, dass unser Planet endlich ist, dass wir sorgsam mit unserem Boden umgehen müssen.

„Aus gutem Boden wächst Gutes.“

Wer Keye über den teils heruntergekommenen Hof bis hinein in die Räume der renovierten Gutsanlage begleitet, kann schon einmal den Überblick darüber verlieren über all das, was hier passiert. Da hilft es, einen festen Boden unter den Füßen zu haben, um nicht die Orientierung zu verlieren. Zum Beispiel den Weltacker, gleich hinter der Scheune. Warum er so heißt, ist ganz simpel: Teilt man die globale Ackerfläche von 1,5 Milliarden Hektar durch die 7,5 Milliarden Erdenbewohner, kommt man auf 2000 Quadratmeter, die jedem einzelnen von uns rein rechnerisch zustehen. Auf diesem Weltacker muss also alles wachsen, was jeder von uns zum Leben braucht: Getreide fürs Brot, Reis, Kartoffeln, Obst, Gemüse, Öl, Zucker, aber auch das Futter für die Tiere, von deren Fleisch, Milch und Eier wir uns schließlich ernähren. Ganz zu schweigen von der Baumwolle für die Jeans oder die nachwachsenden Rohstoffe für die Industrie. „Wir wollen den Menschen ein Bewusstsein dafür vermitteln, woher die Dinge kommen, dass unser Planet endlich ist, dass wir sorgsam mit unserem Boden umgehen müssen“, so Keye. „Und wenn wir beginnen, Boden gut zu machen, dann wächst auch etwas Gutes daraus.“

Und das nicht nur in Form von gesunden Lebensmitteln, sondern auch in der Haltung. Für Keye ist der Weltacker Dreh- und Angelpunkt: Hier kommen Schulklassen und Studierende her, um auf ihm zu arbeiten und Zusammenhänge zu verstehen. Hier kommen die Mitarbeitenden der Nachhaltigkeitsbank GLS aus Bochum her, um zu ackern und so ihr Zahlen-Tageswerk mit Leben zu füllen. Und hier kommen jene her, die blauen Mais machen können.

Interessante Option: Blauer Mais

Anna Wertenbroch ist die Gärtnerin von BioBoden und nutzt die Fläche als Experimentierfeld. Das herkömmliche Gemüse zieht sie auf dem Acker oder im selbst mitgebrachten Tunnel hoch, um den Hofladen und die Biokisten für den Lieferservice für die Menschen rund um Rothenklempenow zu bestücken. Aber blauer Mais ist da schon eine andere Liga. „Wir wollen alte Sorten wiederbeleben“, sagt sie, die zuletzt in Köln einen eigenen Gemüsebetrieb geführt hat. „Samenfeste Sorten, die man kaum noch kennt.“ Als samenfest wird eine Pflanzensorte bezeichnet, wenn aus ihrem Saatgut Pflanzen wachsen, die über exakt dieselben Eigenschaften und dieselbe Gestalt haben wie die Elternpflanze. Heißt: Die Sorte kann sich wie früher natürlich vermehren. In Zeiten von Monsanto und Co. ist das eine Seltenheit geworden.

Und einer dieser samenfesten Sorten ist eben der blaue Mais, einer von 200 Mais-Arten insgesamt. Und für Daniel Möhler eine interessante Option. Gemeinsam mit Co-Gründer Carl Eugen Jahke hat Möhler hier auf dem Gelände das Food-Startup Tlaxcalli angesiedelt. Tlaxcalli kommt aus dem Aztekischen und heißt Maisfladen – der Name ist hier also Programm. Das junge Unternehmen mit seinen sieben Mitarbeitenden produziert hier die ersten und einzigen Bio-Tortillas Europas. Und das ziemlich erfolgreich: Waren es 2017 noch acht Tonnen, sind es zwei Jahre später schon zwanzig.

Verkauft werden die Fladen insbesondere in Gastro- und Delikatessläden Berlins, aber zunehmend auch in ganz Europa, vor allem in Lissabon, wo Möhler zu einer Verkostung war – die Qualität der Tortillas haben sich herumgesprochen. Und nicht nur dort. „Wir bekommen Emails von vielen Mexikanern in Deutschland, die unsere Produkte haben wollen“, so Möhler. Ein echtes Kompliment.

Abfall für Bio-Plastik?

Das kommt nicht von ungefähr. Möhler war nach viereinhalb Jahren in den USA dreieinhalb Jahre in Mexiko, wo er eine Bäckerei in Mexiko-Stadt betrieb. Er weiß also sehr genau, wie man Original-Tortillas macht. Und was man dazu braucht. Zum Beispiel das „Biest“. Die Maschine haben sie eigens aus dem mittalamerikanischen Land importiert, hier wird der Mais gekocht, in einer Vulkansteinmühle zu Teig gemahlen, geformt und auf befeuerten Eisenplatten gebacken. Jeden Tag frisch. Das ist besonders. „Wenn man so will, ist unser Verfahren wie Sauerteig machen im Gegensatz zu Toast herstellen“, sagt Möhler. Was er damit meint: Durch die besondere Herstellung werden Proteinketten aufgespalten und so leicht verdaulich gemacht, der Körper kann andere Nährstoffe leichter aufnehmen, und ganz nebenbei wird das Produkt natürlich haltbar gemacht. Kein Wunder also, dass Tlaxcalli schon den „Next-Organic-Award“ gewinnen konnte.

Und warum sind sie nun ausgerechnet hier? Im letzten Winkel der Republik? „Der Mais hier ist der beste“, sagte Möhler und lässt Tobias Keye strahlen. Die Sorte Padrino von den Feldern in Rothenklempenow hat in einer Blindverkostung gewonnen, da war es klar, dass man sich dem Projekt hier anschließen wollte. Und nicht nur wegen des Mais’. Auch die Vision des Orts war ein Pluspunkt. „Mais ist eine erstaunliche Pflanze“, so der Gründer. „Sie kann die Antwort auf die Frage sein, wie wir den Hunger bekämpfen können.“ Denn: „Mais wächst überall und wie verrückt.“

Die perfekte Rohware also für ganz neue Ideen. Man könnte die Pflanze auch auf andere Gebiete transferieren, so Möhler. „Den Mais-Abfall, also die äußere Schale, könnte man zur Herstellung von Bio-Plastik nutzen“, erklärt er. „Das kalziumhaltige Wasser, das in der Produktion entsteht, könnte auf den Feldern als natürlicher Dünger ausgebracht werden.“

Nichts verschwenden, schonend mit den Ressourcen umgehen, vermeintliche Abfälle für Neues nutzen, in Kreisläufen denken – das ist her die gemeinsame Haltung. „Wir arbeiten hier an einer neuen Landwirtschaft, die vom Boden bis auf den Teller bis in den Körper denkt“, sagt Keye. Und wo man eben auch herumexperimentieren kann. Stichwort: der blaue Mais. Die ersten Samen vom Weltacker haben es schon auf zwei Hektar geschafft – im kommenden Jahr wird Tlaxcalli also ein neues Produkt auf den Markt bringen. „In Zukunft werden wir weitere Maissorten ausprobieren“, so Möhler. Der Vorteil, den sie hier haben: Sie können gemeinsam mit anderen auf Zuruf einfach mal ausprobieren.

Öko-Anbau als Mittel zum Zweck

Das ist nicht nur bei Tlaxcalli so. Auch das andere Food-Startup Lunch Vegaz von Gründerin Govinda Thaler profitiert von der gemeinsamen Haltung, dem gemeinsamen Standort, der gemeinsamen Vision. Lunch Vegaz mit seinen elf Mitarbeitenden produziert fertige Bio-Gerichte komplett ohne Konservierungsstoffe und Geschmacksverstärker. Für die bis zu 30-tägige Haltbarkeit werden die Gerichte lediglich vakuumisiert – was den Vorteil zum Beispiel gegenüber Tiefkühlkost hat, dass die wertvollen Inhaltsstoffe erhalten bleiben. Die Rohwaren kommen – natürlich – von den Feldern direkt vor der Haustür.

Und so ließe sich die Liste noch weiter und weiter und weiter fortsetzen. Sechs neue Startups stehen in den Startlöchern, außer dem Weltacker soll es bald die Weltweide und den Weltwald geben, auch eine Tinyhouse-Siedlung soll entstehen, ebenso wie eine Gaststätte und eine Brauerei fürs gesamte Dorf. Ach ja, und das RCE Stettiner Haff hat hier seinen Sitz, also das Regional Centre of Expertise, ein regionales Kompetenzzentrum für Bildung für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen Universität, aus dem nun Stipendien im Rahmen des Projekts ResidenZukunft vergeben werden an Menschen, die an einer neuen Landwirtschaft arbeiten wollen.

 

„Wir sind eine Modell-Werkstatt für die Gesellschaft von Morgen“, sagt Tobias Keye. Gemeinsam mit den Bewohnern des Dorfs und der Umgebung wollen sie hier eine neue Form des Zusammenlebens erproben, in dem eine ökologische Landwirtschaft auch Mittel zum Zweck für mehr Gemeinschaft, mehr Miteinander, mehr gegenseitiger Verantwortung bietet. Im Sommer gehen sie zusammen im nahegelegenen See schwimmen, spielen Fußball, sitzen am Lagerfeuer. Bei alldem nehmen sie die Menschen vor Ort mit – und das auf eine ernste und empathische Weise: Sie bauen auf ihr Wissen, auf ihre Erfahrung, auf ihre Geschichte. „Die Menschen fühlen sich hier normalerweise nicht gesehen“, glaubt Keye. Man müsse ihnen wieder wertschätzend begegnen und motivierend mit in eine andere Zukunft nehmen. Das klappt nicht bei allen, die Skepsis gegenüber den „Öko-Freaks“ ist noch hoch. Doch es werden immer mehr – und es sind nicht nur die jungen Leute, die sich dem Experiment von Tobias Keye öffnen. „Die ehemalige LPG-Chefin ist unsere treueste Anhängerin“, erzählt er.

Das war nicht immer so. Als BioBoden sich hier ansiedelte, gab es schnell Gerüchte, dass irgendwelche Wessis wieder nur „fette Geschäfte“ machen wollten, diesmal mit Bio-Lebensmitteln, was ja ohnehin alles „Beschiss“ sei. Das hat sich verändert. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer sind die gegenseitigen Vorurteile zwar auch hier in Rothenklempenow noch zu spüren. Aber sie werden jeden Tag kleiner. Man hat hier den Eindruck, dass die Menschen aus West und Ost an einer wirklichen Einheit arbeiten, an einer gemeinsamen Zukunft. Nach dreißig Jahren und viel Frust ist etwas auferstanden aus den Ruinen. Hier, am Rande der Republik.

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