Der neue Tu-rismus

Der neue Tu-rismus

Der ländliche Raum Ostdeutschlands hat nicht nur wunderschöne Landschaften für einen Urlaub zu bieten, sondern auch viele Möglichkeiten, währenddessen im Sinne der Nachhaltigkeit und des Gemeinwohls ins Tun zu kommen. Ob Gemüse in barocken Gärten ernten, Bäume pflegen, Ställe bauen oder sich mit echten Profis über Regionalgenossenschaften austauschen – zwischen Harz und Havelland gibt es viele Anlaufpunkte. Wir stellen einige davon vor.

Alte und neue Kulturtechniken

Das Projekt: Mitten im hügeligen Harzvorland liegt die ehemalige Residenzstadt Ballenstedt, und im Zentrum der Altstadt das „Gut Ziegenberg“: Zentrale des Vereins heimatBEWEGEN, den Nicole Müller gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen 2017 gegründet hat, um die zwar immer noch elegante, aber doch in die Jahre gekommene Kleinstadt mit neuem Leben zu füllen. Und das gelingt ihr in zahlreichen Projekte ziemlich gut. Immer unter dem Motto: „Stellen Sie sich vor, Ihre Stadt wäre wunderbar und Sie sind schuld daran!“
Gebündelt werden die Aktivitäten auf dem „Gut Ziegenberg“ oder um im Sprech des Vereins zu bleiben: dem heimatHOF. Ein Ort für BallenstedterInnen genauso wie für Reisende, für junge und alte Neugierige, der einlädt mit anzupacken, ins Gespräch zu kommen, gemeinsam nachzudenken und mitzugestalten.

Mitmachen: Auf dem Hof gibt es genügend Gelegenheiten, aktiv zu werden und dabei auch noch etwas zu lernen. Etwa beim Bau eines Schaf- und Ziegenstalls, beim Ernten der Streuobstwiesen, beim Hühner versorgen, im Mitmachgarten, bei Kräuterwanderungen, bei der Verarbeitung von Schafwolle, bei einer Einführung ins historische Färberhandwerk oder einfach bei selbstgebackenem Kuchen mit Zutaten aus dem Hofladen im eigenen Hofcafé. Auch handwerklich geschickte Leute finden immer etwas zu tun, denn fertig ist der Hof noch nicht. Ein wichtiger Meilenstein wurde im letzten Frühjahr allerdings schon erreicht: Fünf Herbergszimmer stehen UrlauberInnen und helfenden Händen seitdem zur Verfügung. Und wer glaubt, sich hier vor allem nur mit altem Kulturgut beschäftigen zu können, kennt den Verein nicht gut genug, der stetig auf der Suche ist nach neuen zukunfsweisenden Möglichkeitsräumen. Deshalb steht seit diesem Herbst auf dem Hofgelände auch ein zum MakerLabor ausgebauter Seecontainer. Ein außerschulischer Lernort, der nicht nur SchülerInnen zur Verfügung steht, um sich mit den digitalen Chancen der Zukunft vertraut zu machen.

Ballenstedt

Ort:
Ballenstedt

Kontakt:
Nicole Müller, Jan Söchting, gutziegenberg.de

Übernachten:
fünf Ferienzimmer mit acht Übernachtungsplätzen, auch Zelt- und Wohnmobilstellplätze stehen zur Verfügung.

Horse meets Yoga

Das Projekt: Das Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde? Nicht unbedingt. Denn das eigene Glück lässt sich auch auf Augenhöhe mit den Vierbeinern finden. Zumindest wenn man sich in die Hände von Steffi Halupnik begibt, die sich auf pferdegestütztes Coaching spezialisiert hat. Und das geht so: Die studierte Psychologin und ausgebildeter Coach Halupnik geht mit ihren Coachees auf die Koppel. Sie stellt viele Fragen, ähnlich der systemischen Aufstellung fühlen sich die Befragten in bestimmte für sie problematische Konstellationen hinein. Immer mit dabei das Pferd – und das reagiert mit seinen feinen Sensoren auf die unterschwelligen Gefühle: Es wird unruhig, nähert sich dem Coachee oder wendet sich ab. „Das funktioniert eigentlich immer“, erklärt Halupnik, die durch diese Zuarbeit des Pferdes viel schneller an den Kern des Problems kommt, als bei einem Gespräch in der Praxis. Ihr Ziel: Menschen nachhaltig in eine bessere Balance mit sich und der Umwelt zu bringen. Deshalb bietet sie jetzt neben dem Coaching auf ihrem Hof auch Yoga an – wer will, auch das gerne auf der Koppel.

Mitmachen: Wer nicht nur die Seele baumeln lassen, sondern diese auch pflegen will, ist auf Halupniks denkmalgeschützten Vierseitenhof „Bauernhof Lisa“ genau richtig. Menschen jeden Alters und in jeder Lebenslage, ohne und mit Pferde-Vorerfahrung, können sich bei Steffi Halupnik eine erkenntnisbringende Auszeit gönnen, ob bei einer Einzel- oder Gruppenstunde, bei Yoga-Einheiten oder beidem. Die Beweggründe dürfen ganz unterschiedlich sein. In ihren regelmäßigen Wochenend-Seminaren geht es mal um verbesserte Führungsstile, ein gestärktes Selbstbewusstsein, Hilfe bei Entscheidungen oder beim Grenzen setzen. Weitere Themen willkommen.

Wienrode

Ort:
Wienrode

Kontakt:
Steffi Halupnik, wienro.de

Übernachten:
Platz für acht Gäste in zwei Ferienwohnungen

Agora in Harzgerode

Das Projekt: Dass das leerstehende Restaurant, das sich Solveig Feldmeier und Richard Schmid 2018 in Harzgerode kauften, ausgerechnet Athina hieß, hat schon fast prophetischen Charakter. Wie im antiken Athen die Agora, sollen die Räume des ehemaligen Lokals ein Anlaufpunkt für die Menschen zum Debattieren und Gestalten sein. Während im Obergeschoss des Hauses die eigene Wohnung samt mehrerer Gästezimmer eingerichtet ist, steht der ehemalige Speisesaal nun für Erzähl-Cafés, Philosophische Salons, Sport- und Tanzangebote zur Verfügung; das Außengelände seit Neuestem für einen BügerInnen-Garten. Nicht nur punktuell, auch strukturell bewegt das Ehepaar seit seinem Zuzug in die Kleinstadt einiges: Die Angebote werden im Verein ‚Soziokulturelles Zentrum ATHINA‘ gebündelt und die neugegründete Regionalgenossenschaft (Harz.Coop eG) kümmert sich um eine solidarische Stadtentwicklung. Und die Sterne stehen nicht schlecht, dass ihre vielen Pläne auch umgesetzt werden: Mehrere Jahrzehnte haben sie schon verschiedene Jugend- und Gemeinschaftsorte geschaffen.

Mitmachen: Gerne empfängt das Ehepaar UrlauberInnen. Nicht wie ein Hotel, eher wie ein offenes Haus, in dem Interessierte willkommen sind mitzureden, mitzulernen und mitzumachen. Entweder bei ihnen vor Ort, bei einer von Schmids Lernwerkstätten zu Genossenschaften oder beim befreundeten Gemeinschaftsprojekt Freie Feldlage. Bei letzterem entsteht gerade unweit von Harzgerode ein neuer Lern- und Lebensort, der vor allem viele junge ZuzüglerInnen anlockt. Auch hier gibt es viele Mitmachmöglichkeiten – sei es beim Bau von Komposttoiletten oder Kläranlagen, bei der Gartenarbeit oder beim Kochen. Und zur Entspannung liegt das fast unberührte Selketal vor der Tür, in dem man wandernd über die ganzen Impulse nachsinnen kann.

Harzgerode

Ort:
Harzgerode

Kontakt:
Solveig Feldmeier und Richard Schmid, sz-athina.de

Übernachten:
Vier Übernachtungsplätze stehen zur Verfügung, für Anspruchslose ist auch eine Übernachtung mit Isomatte und Schlafsack im Wintergarten möglich. Auch Stellplätze vorhanden.

Vom Garten auf den Tisch

Das Projekt: Es ist ein geschichtsträchtiger Ort, an dem Zuchini, Fenchel, Kohlrabi, Auberginen, Gurken, Tomaten, Kürbisse und viele Obstbäume mit alten und fast schon vergessenen Apfel-, Birnen- und Pflaumensorten wachsen. Sie alle gedeihen auf dem drei Hektar großen Land des barocken Gutshof-Lausnitz von Alexe von Wurmb. Sie hat aus dem Gutshof in den letzten 15 Jahren einen Ort des nachhaltigen Lebens gebaut. Die Wirtschafts- und Politikwissenschaftlerin kehrte 2006 ihrem Job in Brüssel den Rücken. Mit Mitte Dreißig zog sie mit ihrem Mann und zwei kleinen Kindern auf den Hof, der bereits seit dem 18. Jahrhundert (mit Unterbrechungen) im Familienbesitz ist. Heute bewirtschaftet sie einen vielfältigen Gemüsegarten und Streuobstwiesen, deren Ernte für ihre Familie, Feriengäste und den Direktvertrieb vor Ort ausreicht. Eine Mosterei und Anzucht von Frühpflanzen kommen hinzu. Fernab vom geschäftigen Treiben der EU widmet sie sich nun ganz konkreten Herausforderungen des täglichen Lebens mit dem Anspruch und Willen, nachhaltige Lösungen im Einklang mit den Kreisläufen der Natur zu finden.

Mitmachen: Wie diese Lösungen aussehen, daran lässt Alexe von Wurmb zum Glück auch ihre Gäste teilhaben, die in einem ihrer zehn Ferienzimmer einen Ort der Ruhe finden können. Die können entweder die besondere Atmosphäre eines Spaziergangs unter den 250 Jahre alten Bäumen entlang der alten Steinmauern genießen, einen Permakultur-Workshop besuchen oder sich direkt mit der Gastgeberin auf einen Streifzug durch den alten Barockgarten begeben, saisonales Gemüse und Kräuter pflücken, sie in einem Kochworkshop verarbeiten und an der großen Tafel unter Kronleuchtern und bei Kerzenschein essen. Von „Farm to Fork“ eben.

Lausnitz

Ort:
Lausnitz bei Neustadt an der Orla

Kontakt:
Alexe von Wurmb, gutshof-lausnitz.de

Übernachten:
zehn Ferienzimmer (auch als Gruppe buchbar). Platz für bis zu 20 Personen. Auch ein Wohnmobilstellplatz ist verfügbar.

Wald der Zukunft

Das Projekt: Inmitten monotoner Kiefernwälder hat die Wissenschaftlerin Barbara Ral eine grüne, ein Hektar kleine Oase geschaffen. Sie nennt sie „Insel der Vielfalt“. Vor zehn Jahren hat sie in der Nähe der Stadt Beelitz mit Hilfe eines Forstexperten ein kleines Stück Mischwald probeweise angelegt: verschiedene Ahornarten, Ebereschen, Robinien, Eichen, Lerchen, Sandbirken. Ein Experiment, um herauszufinden, welche Baumarten hier auf dem trockenen Sandboden neben der Kiefer am besten gedeihen. Der damalige Förster hielt sie für verrückt und prognostizierte keinen Erfolg. Ein Jahrzehnt später wächst hier „eine Pracht“, wie eben dieser Förster inzwischen zugibt, so dass die studierte Biologin mit der Waldpflege ganz schön viel um die Ohren hat. Die ist so lange nötig, bis der neue Wald als eingespieltes Ökosystem alleine klar kommt. Bis dahin heißt es, Bäume freischneiden, Wildzäune bauen oder Raupen absammeln, die zu diesem frühen Zeitpunkt den jungen Bäumen noch zu sehr schaden würden.

Mitmachen: Das alles ehrenamtlich und vor allem alleine zu stemmen, wäre nicht möglich. Deshalb richtet Barbara Ral Waldaktionstage aus und lädt Interessierte ein mitzuhelfen: Kinder, Erwachsene, mit oder ohne Vorwissen, Leute aus Beelitz oder Reisende, die entlang des Europaradwegs nicht nur schöne Landschaft bestaunen, sondern auch erhalten wollen. Mit Arbeitshandschuhen und kleinen Handsägen geht es für ein paar Stunden in den Wald. Nebenbei erzählt Barbara Ral Spannendes über die Bäume, gibt Tipps zum Klimaschutz im Alltag und zum persönlichen Schutz vor Hitze.

Beelitz

Ort:
Beelitz, Europaradweg B1

Kontakt:
Barbara Ral, Zebrahof.de, instagram @zeo_zwei

Übernachten:
Nach Anmeldung mit Zelt auf einer Wiese ca. 4km entfernt

Bauernhof als Schule des Lebens

Das Projekt: Vor vier Jahren haben die Lehrerin Lene Waschke und der Landwirt Matthias Peeters die BAUERei Grube gegründet – eine Solidarische Landwirtschaft im ländlichen Grube, einem Ortsteil von Potsdam. Hier verbinden sie das Beste aus ihren zwei Welten: Bildung und Landbau. Und dieses Prinzip findet sich sogar bei der Wahl der Hoftiere wieder. So sind die beiden Esel MarIA und Krawall nicht nur in ihren landbaulichen, sondern auch in ihren pädagogischen Fähigkeiten nicht zu unterschätzen: „Esel sind sehr kooperativ und haben ein sensibles Gespür für ihr Gegenüber. Stimmt etwas nicht, merken es Esel sofort“, erzählt Waschke, die nicht nur deshalb den Bauernhof für den besten Lernort für Kinder und Jugendliche hält. Für sie verschmelzen beim Landbau wichtige Lernerfahrungen von Handwerk über Biochemie bis soziale Interaktion und Natur erleben auf ganz natürliche Weise miteinander.

Mitmachen: Menschen jeden Alters schätzen die fast meditative Kraft der Ackerarbeit – auch Schulklassen aus dem umliegenden Havelland kommen regelmäßig auf den Bauernhof. Von Artischocke bis Zuckermais, über 80 Gemüsesorten werden auf dem 13 Hektar großen Land angebaut, demnächst ist noch Getreideanbau geplant und auch der Hof selbst hat noch viele Baustellen. Sechs Wochen ist derzeit der Minimumaufenthalt für Mitmach-Gäste. Gegen Kost und Logis helfen sie jeden Tag für mehrere Stunden mit. Das Lernen landwirtschaftlicher Grundfertigkeiten steht zwar im Mittelpunkt, aber es geht um mehr: um soziales Zusammenarbeiten, Verantwortungsgemeinschaft, um enkeltaugliche Nahrungsversorgung. Weil sich die beiden HofbesitzerInnen freuen, wenn davon immer mehr angetan sind, organisieren sie immer mal wieder offene Ackertage für interessierte Gruppen oder gerne auch für SchulleiterInnen und BürgermeisterInnen. Denn Waschkes Vision für die Zukunft lautet: „Jeder Schule einen Acker, jedem Kiez eine SoLaWi.“

Grube

Ort:
Grube (Ortsteil von Potsdam)

Kontakt:
Lene Waschke, bauerei-grube.de

Übernachten:
mit eigenem Zelt am Seeufer, im Stallzimmer bei den Schafen oder für Gruppen auch im alten Dorf-Tanz-Saal der BAUERei e.V.

Die Kuhpäpstin

Die Kuhpäpstin

Wer in die Zukunft der Landwirtschaft reisen möchte, muss auf eine Weide, kurz vor Polen. Auf dem Hof „Stolze Kuh“ im Odertal haben Anja Hradetzky und ihr Mann Janusz einen Mutter- und Milchkuh-Betrieb aufgebaut, der Naturschutz, ökologischen Landbau und eine wesensgemäße Tierhaltung verbindet. Als gelernte „Kuhflüsterin“ weiß Anja Hradetzky, was das Wesen des Rindviehs ausmacht und gibt dieses Wissen in Seminaren und bei gemeinsamen Streifzügen über die Weiden weiter. Wir gehen mit.

Leicht hat es die Landwirtschaft der Zukunft offenbar nicht, denn Anja Hradetzky ist sauer. Auf dem letzten Demeter-Verbandstreffen hat sie erfahren, dass neue Großbetriebe in den Verband aufgenommen werden und sich zukünftig mit dem strengen Bio-Siegel schmücken dürfen. Betriebe, die in den Augen der jungen Landwirtin viel zu viele Tiere haben, um sie noch wesensgemäß halten zu können, nämlich grasend auf der Weide. Für sie ist es deshalb ein Schritt in die falsche Richtung. Auch die Bundesregierung will als Teil ihres Klimaschutzprogrammes den Ökolandbau bis 2030 ausbauen – und den Anteil der ökologisch bewirtschafteten Fläche von derzeit knapp 10 auf 20 Prozent heben. Was alles unter Ökolandbau fällt, ist allerdings ein weites Feld. Anja Hradetzky und ihr Mann praktizieren seit 2014 die auf den ersten Blick vielleicht radikalste Form. Für die Eltern von zwei Kindern ist es aber der einzig vertretbare Weg, wenn Milch und Fleisch weiter auf unseren Tellern landen sollen.

Um zu erfahren, wie dieser Weg aussieht, treffen wir Anja Hradetzky auf ihrem Hof „Stolze Kuh“ im 300-Seelen-Ort Stolzenhagen am Rande der Uckermark. Es ist mit über 36 Grad eines der heißesten Wochenenden in Brandenburg. Die stolzen Kühe sind träge und haben sich unter den kühlen Schutz der Bäume zurückgezogen. Bei solchen Temperaturen auch einen Gang runter zu schalten, ist für die 34-jährige Landwirtin nicht drin. Sie hat wie jeden Tag ein straffes Programm: Melken, Zäune ziehen, Bauernmarkt, Vertriebstouren, Büroarbeit, Weideführung, Mittagessen für ihre 4- und 7-jährigen Kinder kochen. Zeit für unsere Fragen nimmt sie sich trotzdem.

Wir brauchen eine Landwirtschaft ohne Verschwendung.

Anja, du bist einer von drei Menschen in Deutschland, die eine besonders stressarme Kommunikation mit Kühen praktizieren: das Low Stress Stockmanship. Du wirst deshalb auch oft als Kuhflüsterin bezeichnet. Eine passende Beschreibung?

Anja Hradetzky: Der Begriff Kuhflüsterin kam von den Medien. Aber er gefällt mir. Ich flüstere zwar nicht wirklich, sondern kommuniziere durch mein Laufen, meine Geschwindigkeit und durch den Winkel, in dem ich zu den Kühen stehe. Aber es ist eine ziemlich ruhige Angelegenheit. Wer nicht geübt ist und nicht weiß, wie sonst auf dem Feld geprügelt und geschrien wird, für den sieht es wahrscheinlich sehr unspektakulär aus. Aber gerade wenn es beispielsweise darum geht, ängstliche Kühe auf einen Transporter oder in den Melkstand zu bekommen, dann praktiziere ich schon einen sehr anderen Umgang mit den Kühen als leider sonst üblich.

Nicht nur deine Kommunikation mit Kühen ist besonders, deine Kühe leben und sterben auch anders.

Alle unsere Kühe – auch Bullen und Kälber – sind das ganze Jahr gemeinsam über auf der Weide, auch im Winter. Da wir alte robuste Rassen haben, halten sie das gut aus. Dank unseres mobilen Melkstands können wir sie auch auf der Weide melken. Unsere Kühe fressen ausschließlich Gras und was sie sonst so an Kräutern finden. Deshalb sieht übrigens auch der Käse unserer Käserei immer wieder anders aus. Für die Wintermonate ohne Aufwuchs fressen sie Klee- und Luzerne-Heu, das wir selbst machen. Für uns ist außerdem selbstverständlich, dass wir den Kühen ihre Hörner lassen, da diese ihren Wärmehaushalt regulieren. Kurz: Wir versuchen, sie so wesensgemäß wie möglich in ihrem natürlichen Habitat leben – und sterben zu lassen. Seit einiger Zeit dürfen wir unsere Tiere durch den Kugelschuss auf der Weide töten, das ist die stressärmste Form der Tötung, die möglich ist.

Eine Besonderheit eures Hofes ist die kuhgebundene Kälberaufzucht. Was heißt das?

Statt die Kälber wie üblich von der Mutterkuh zu trennen, lassen wir sie mindestens eine Woche bei der Mutter trinken. Danach gewöhnen wir jeweils zwei Kälber an eine Kuh: Das heißt, eine Kuh begleitet weiterhin ihr eigenes Kalb und ‚adoptiert‘ das Kalb einer anderen. Die andere Kuh kann ihr Kalb weiterhin besuchen und sicher gehen, dass es gut versorgt ist. Das funktioniert sehr gut, auch weil es in der Herde Kühe gibt, die mehr Lust auf die Mutterrolle haben als andere. Das ist wie bei uns Menschen (lacht).

Für euch bedeutet diese Form der Kälberaufzucht aber weniger Milch. Warum hast du dich trotzdem dafür entschieden?

Ein Kalb braucht eine Mutter. Auch das ist wie bei uns Menschen. Es stimmt, für uns heißt das, nur jede zweite Kuh melken zu können, bis die Kälber alt genug sind. Aber die für einen Milchkuhbetrieb gängige Praxis, die Kälber gleich nach der Geburt aus einem Nuckeleimer trinken zu lassen, alleine im Stall ohne Bezugstier, ist einfach nicht wesensgemäß. Außerdem stärkt das Trinken am Euter das natürliche Immunsystem der Kälber und macht sie resistenter gegen Krankheiten. Ein weiterer Vorteil ist, dass die Kälber so direkt in die Herde integriert werden und von der Kuh soziale Verhaltensweisen lernen: Schau, dort gibt es Wasser; Vorsicht, da ist Strom; Das ist Anja, die will irgendwas von uns; Zäune sind Grenzen. Das wiederum erleichtert meine Arbeit mit der Herde enorm. 

Ihr seid nicht nur ein Milchkuhbetrieb, sondern verwertet auch das Fleisch der Rinder, obwohl diese Form der Zweitnutzung nicht weit verbreitet ist …

Erst hatte ich immer nur an Fleischverarbeitung gedacht. Dann fand ich es aber schade, die Rinder nur zu halten, um die Kälber zu verwursten, wenn man die Kühe doch auch melken kann. Wir halten deshalb alte Zweinutzungsrassen, bei denen beides kombiniert geht. Auch mit dem Vorteil, dass wir die männlichen Kälber der Milchkühe nicht loswerden müssen – was leider oft gängige Praxis ist. Im schlimmsten Fall werden sie nach der Geburt getötet, da sie für die Milchkuhbetriebe wirtschaftlich wertlos sind.

Wie Anja Hradetzkys Kuhhaltung konkret aussieht, zeigt sie am nächsten Morgen, früh um 7 Uhr. Mit dem PickUp geht es in den Nationalpark Unteres Odertal. Hier haben die Hradetzkys 110 Hektar Weidefläche gepachtet. An der Weide angekommen, sind wir noch etwa eine halbe Stunde unterwegs, um die Kühe für die morgendliche Melkroutine abzuholen. Anja Hradetzky läuft schließlich mal rechts, mal links von den Tieren und spricht ruhig mit ihnen. Laut wird sie nie. Dass jeder Schritt wohl durchdacht ist, merkt man erst, wenn man den eingespielten Ablauf zwischen Herde und ihr stört, weil man selbst im falschen Winkel zur Kuh steht und das Tier sich plötzlich nicht mehr von der Stelle bewegt.

Insgesamt haben die Hradetzkys 170 Rinder. Etwa 25 von ihnen melkt Anja Hradetzky an diesem Morgen, jeweils sechs stehen zur gleichen Zeit im offenen Weidemelkstand. Obwohl die studierte Landbäuerin ohne Eile ist, geht es zügig voran, schließlich stehen die Tiere friedlich Schlange, bis sie an der Reihe sind. Die Rinder, Ammenkühe, Kälber und Bullen haben sich derweil schon wieder unter die schattigen Bäume gedrängt und schauen dem Treiben entspannt zu. Ein Paar fällt besonders auf. Es sind der Bulle Hauke und die gerade rindernde (Kuhsprech für läufige) Florentine. Morgen wird er sie wohl befruchten, erklärt Anja Hradetzky, heute gewöhnen sie sich schon mal aneinander, quasi ein kleines Vorspiel. Von künstlicher Besamung oder der separaten Haltung der Bullen, die dann nur zum Decken der Kühe herausgelassen werden, hält sie nichts. Dass die Bullen bei solch einer Haltung irgendwann aggressiv werden und damit ihren schlechten Ruf bestätigen, sei kein Wunder. 

Mit knapp 280 Liter Milch ist das Melkfass auf der Ladefläche des PickUps schließlich befüllt, und es geht zurück zum Hof. Dort findet so wie jeden Samstag der Bauernmarkt statt, den Anja Hradetzky für eine bessere Direktvermarktung ins Leben gerufen hat. GemüsebäuerInnen und ImkerInnen aus der Region verkaufen hier ihre Produkte, auch Anja Hradetzky steht hinter der Käsetheke. Der Markt wird gut angenommen. Vor allem junge Familien aus der Region und WochenendpendlerInnen aus Berlin kommen vorbei. Es ist neben der Belieferung vieler DirektkundInnen, einiger Bioläden und dem Verkauf über viele Marktschwärmereien in Berlin die einzige ganz nahe Vertriebsmöglichkeit für ihre Produkte.

Als Kuhflüsterin bist du in Deutschland ziemlich einzigartig. Aber es gibt immer mehr junge Bäuerinnen und Bauern, die auf eine nachhaltigere Landwirtschaft setzen. Du und dein Mann habt das ‚Bündnis Junge Landwirtschaft‘ mitgegründet. Wächst da gerade eine neue Generation an LandwirtInnen heran?

Ich hoffe es. Aber es ist sauschwer. Allein von den Oder-Jungbäuerinnen und -bauern aus unserer Region sind von anfangs 30 Mitgliedsbetrieben vielleicht nur noch eine Handvoll dabei. Es ist einfach zu schwierig, als Betrieb zu überleben, finanziell lohnt sich bäuerliche Landwirtschaft einfach nicht in Konkurrenz zur Industrie. Es ist viel einfacher, irgendwo anders mehr Geld mit besseren Arbeitszeiten zu verdienen. Und Großbetriebe werden durch die aktuellen Förderstrukturen viel mehr unterstützt. Wenn Landwirtschaft wie am Fließband funktioniert, ist das natürlich viel einfacher und kostengünstiger, als wenn man individuell auf die Tiere eingeht.

Wenn das finanziell schwierig ist, wie schafft ihr es zu überleben?

Ökonomischer im herkömmlichen Sinne sind die Großbetriebe, darüber brauchen wir gar nicht diskutieren. Meine Kühe geben auch weniger Milch. Ich müsste sofort schließen, wenn ich nur die Zahlen betrachte. Aber ich denke ganzheitlich: Was bedeutet es für die Kuh, wenn sie in Herden mit bis zu 250 Kühen lebt? Wenn sie den ganzen Tag den Lüfter statt Vogelgezwitscher hört? Wenn sie direkt nach der Geburt von der Mutter getrennt wird? Und weil ich das auch den Menschen kommuniziere und erkläre, warum unsere Milch, unser Käse und unser Fleisch teurer sind, kann ich meine Produkte trotzdem verkaufen und davon leben. Die Frage ist doch: Wie wollen wir mit unseren Mitgeschöpfen umgehen? Welches Leben gönnen wir ihnen?

Könnt ihr diesen Themen gemeinsam mit dem ‚Bündnis Junge Landwirtschaft‘ eine größere Lobby verschaffen? 

Wir sind schon sehr aktiv und werden auch viel von der Presse angefragt. Politisch fallen wir aber kaum ins Gewicht. Speziell zum Thema kuhgebundene Kälberaufzucht haben wir noch die Interessensgemeinschaft ‚Kuh und Kalb – Zeit zu zweit‘ mitgegründet. Mit diesem neuen Label wollen wir mehr Transparenz für die KonsumentInnen schaffen. Aber auch für mich persönlich sind solche Netzwerke extrem wichtig zur eigenen Motivation, für den Austausch mit Gleichgesinnten und Unterstützung in schwierigen Situationen.

Welche schwierigen Situationen meinst du?

Das ,Bündnis Junge Landwirtschaft‘ hat zum Beispiel eine Flächenplattform gegründet, die EigentümerInnen von Flächen mit JunglandwirtInnen zusammenbringt. Geeignetes und bezahlbares Land zu finden ist sehr schwierig. Und wenn es sich jetzt sogar lohnt, Flächen mit Photovoltaik zuzupflastern, weil der Hektar 2.000 Euro Pacht bringt und damit mehr Geld als je durch Bewirtschaftung für Lebensmittel möglich ist, gestaltet sich für JunglandwirtInnen der Einstieg immer schwieriger. Doch auch wenn diese Schwelle genommen ist, gibt es im kleinbäuerlichen Alltag immer neue Hürden, die einem das Leben schwer machen.

Welche sind das?

Ein großes Problem ist zum Beispiel die Bürokratie. Von meinem Zehn-bis-Zwölf-Stunden Arbeitstag entfallen bestimmt sieben Stunden aufs Büro, zwei Stunden aufs Melken und eine Stunde auf Orga-Kram. Allein der jährliche Agrar-Antrag für die Subventionen ist so kompliziert, dass ich trotz meines Studiums fast nicht durchsteige. Das ist alles Zeit, die mir fürs Melken oder Zäunen fehlt. Wer 2.000 Hektar Ackerbau mit nur drei Kulturen bestellt, für den ist es einfacher – aber für vielfältigere Betriebe mit zehn Kulturen auf 100 Hektar Land ist es richtig kompliziert. Und manchmal wird es auch einfach nur absurd.

Inwiefern?

Die Hygienevorschrift für Melkstände sieht vor, die gefliesten Wände regelmäßig zu reinigen. Wenn es aber wie bei meinem offenen Weidemelkstand keine Fliesen gibt, wird es kompliziert und erklärungsintensiv. Oder der Kugelschuss auf der Weide: Ich muss für jedes Tier die Genehmigung aufs Neue beantragen. Es wäre viel einfacher, 30 Tiere auf einen Lkw zu verladen und quer durch Europa zum Schlachthof zu schicken – ohne Kontrollen! Das ist total verrückt.

Du sorgst dafür, dass deine Tiere ein gutes Leben haben. Wie sieht es mit der eigenen Work-Family-Balance aus?

Es ist schon sehr viel Arbeit und wir machen vieles selbst. Unsere Kinder sind oft mit dabei, wir haben aber auch ganz klare Familienzeiten. Trotzdem passiert in der Landwirtschaft natürlich auch Unvorhergesehenes: Gerade erst heute Morgen, an einem Tag mit 35 Grad, mussten wir Bullen einfangen, deren Zaun wahrscheinlich von Wild eingerissen wurde – zwei Stunden lang. Da klebt die Zunge am Gaumen. So etwas wird halt einfach keiner mehr machen für ein bisschen mehr als Mindestlohn. Und ich würde lügen, wenn diese Rahmenbedingungen und auch die Entwicklung hin zu immer mehr Großbetrieben auch im Bio-Bereich nicht auch bei mir Zweifel nähren. Dennoch: Aufhören, mich für eine bessere Landwirtschaft und einen achtsameren Umgang mit Tier und Natur einzusetzen, kommt nicht in Frage.

Unser gemeinsamer Streifzug endet mit einem öffentlichen Weidebesuch, zu dem Anja Hradetzky Interessierte einmal im Monat einlädt. Treffpunkt ist eine Brücke am Kanal. Einige Minuten bleiben ihr, bevor es losgeht. Die nutzt sie kurzerhand, um sich durch einen Sprung ins kühle Wasser eine Abkühlung zu gönnen. Mit nassen Haaren begrüßt sie im Anschluss knapp 20 Interessierte: Leute aus der Region, Urlaubsgäste, ein alter Studienkollege aus Berlin. Viele Kinder sind dabei. Anja Hradetzky erzählt Anekdoten von ihren Rindern, erklärt aber auch den jungen ZuhörerInnen ohne Umschweife, wie die Schlachtung der Tiere funktioniert. Sie ist in ihrem Element, belehrt nicht, erzählt einfach, wie es ist und steckt auch ihre Zuhörerschaft mit ihrer Begeisterung für einen ganzheitlichen Blick auf Landwirtschaft an.

Bist du trotz aller Herausforderungen überzeugt, dass der Ökolandbau die Landwirtschaft der Zukunft ist?

Wenn ich sehe, wie die Böden heruntergewirtschaftet werden und gar nichts mehr darin lebt, dann ist eigentlich nur unsere Landwirtschaft zukunftsweisend. Oder nehmen wir die Hochleistungszucht: Die bringt zum Beispiel Kühe mit immer größeren Eutern hervor mit dem Ergebnis, dass das Melkgeschirr nicht mehr an den kurzen Zitzen hält. Dann muss erst eine alte Rasse, die wir Idealisten erhalten, eingekreuzt werden, um wieder längere Zitzen hervorzubringen. Unsere Landwirtschaft geht nachhaltiger mit ihren Ressourcen um. Manche sagen deshalb: Wir werden uns Bio ernähren oder gar nicht. Wirklich zukunftsfähig ist sie aber nur ohne die Konkurrenz der Billig-ProduzentInnen, die auf Kosten der Tiere, Menschen und des Ökosystems wirtschaften. 

Zur Zukunftsfähigkeit gehört auch, sich für den Klimawandel zu wappnen. Sind nachhaltige Betriebe wie eure da besser aufgestellt?

Unsere Rinder sind super an unseren Standort angepasst. Die halten auch mal zwei trockene Jahre aus. Sie geben dann zwar ein bisschen weniger Milch, aber sterben nicht gleich davon. Es ist mir super wichtig, resilient zu wirtschaften. Das hat sich auch während der Corona-Pandemie bewährt, als Futtermittel knapp wurden, schließlich wächst unser Futter auf der Weide und ist nicht von globalen Lieferströmen abhängig. Gerne würden wir auch noch mehr regenerative Landwirtschaft betreiben, und auf unserer Weidefläche mehr Bäume zum CO2-Ausgleich pflanzen. Agroforst nennt man das. Auf der von uns gepachteten Fläche ist uns das aber leider nicht erlaubt.

Wie stehst du zu Vorschlägen, dass sich auch der Ökolandbau gegenüber bestimmten Gen-Techniken und der Digitalisierung öffnen muss, um die Erträge effizienter zu gestalten?

Eine stärkere Digitalisierung zum Beispiel zur Erleichterung der Bürokratie? Ja, gerne! Aber Viehhaltung mit künstlicher Intelligenz? Ich glaube, dass es schwierig ist, wenn Tiere nur noch von Maschinen bedient werden. Es sind Lebewesen! Grundsätzlich glaube ich, wir sollten Landwirtschaft so natürlich halten und so wenig ins System Natur eingreifen wie möglich. Mein Vorschlag für mehr Effizienz: eine Landwirtschaft ohne Verschwendung. Ein Drittel der in Deutschland gehaltenen Schweine landen am Ende im Müll. Wenn wir mit solchen Skurrilitäten aufhören, brauchen wir keine Gen-Technik.

Vieles, was du ansprichst, ruft nach politischen Lösungen. Was kann der Einzelne tun?

Vote with your fork! Das macht den Unterschied. Mit jeder Kaufentscheidung sagt man: Bitte mach mehr davon! Und es wird einfach mehr davon gemacht, egal in welche Richtung.

Reise ins Neuland

Wer sich ein eigenes Bild von innovativen Projekten im ländlichen Raum machen möchte, sollte seine Koffer packen. Mit dem Verein Neuland gewinnen e.V. können Neugierige jetzt die Land-Pioniere besuchen. Wir haben sie begleitet – und Orte entdeckt, an denen das Leben zurückgekehrt ist.

Wer sich ein eigenes Bild von innovativen Projekten im ländlichen Raum machen möchte, sollte seine Koffer packen. Mit dem Verein Neuland gewinnen e.V.
 können Neugierige jetzt die Land-Pioniere besuchen. Wir haben sie begleitet – und Orte entdeckt, an denen das Leben zurückgekehrt ist.

Fotos: Robert Bosch Stiftung/Jörg Gläscher

Lernen bis die Funken fliegen

Schmieden, schweißen, malen, meißeln, hämmern, schnitzen, löten – es gibt wohl kaum ein Handwerk, das Kinder und Erwachsene im offenen Werkstatthaus in Qualitz nicht lernen können. Es ist ein fröhliches, belebtes Haus, dessen Türen für alle offen stehen. Im Mittelpunkt steht das gemeinsame Lernen von neuen Fertigkeiten – unabhängig von Alter und Vorwissen. Und das sogar täglich. Das Angebot umfasst regelmäßige Kurse, Vorträge, Workshops, einen Mathekreis, gemeinsames Singen, Krabbelgruppen, Waldtage und eine offene Werkstatt. Insgesamt zwanzig Stunden pro Woche. Für ein Dorf mit 380 Einwohnern ist das ziemlich viel.
Barbara Wetzel ist eine der Gründerinnen des Allerhand e.V., dem Verein, der die Werkstatt betreibt. „Uns war es wichtig, permanentes Tun aufs Land zu bringen. Kein Blitzlicht, sondern ein stetiges Angebot direkt vor der Haustür“, erklärt die gelernte Bildhauerin. Bevor die Werkstatt 2014 in die Räumlichkeiten eines zuvor leerstehenden Hofes gezogen ist, mussten Eltern ihre Kinder für Freizeitaktivitäten bis ins dreißig Kilometer entfernte Güstrow fahren – vorausgesetzt sie hatten Zeit dafür. Deshalb ist das Haus noch viel mehr als ein Lernort: Es ermöglicht unabhängig vom finanziellen Hintergrund allen die Teilnahme und sorgt so für ein besseres Miteinander im Dorf. Auch die Schulen und Kitas haben inzwischen den Wert erkannt und integrieren das Vereinsangebot in den Lehrplan. Die Kurse wiederum sind auf den Busfahrplan abgestimmt, damit auch die umliegenden Ortschaften vom Angebot profitieren. Das hat sich herumgesprochen. Barbara Wetzel: „Es sind schon junge Familien nach Qualitz gezogen, weil es unser Angebot gibt.“

Bauen für die Seele

Manche Leute haben einen grünen Daumen. Klaus Hirrich hat zwei grüne Hände. Weil die Landschaft in und um die Dörfer Wangelin und Gnevsdorf „so leer geräumt aussah“, begann der gelernte Schlosser in den neunziger Jahren mit vielen Mitstreitern Bäume zu pflanzen. Und hörte nicht mehr damit auf: 50.000 müssen es mittlerweile sein, sagt er. Im Schatten der gepflanzten Bäume blüht der Wangeliner Garten mit dem größten Kräutergarten Mecklenburgs und 900 Pflanzensorten auf 15.000 Quadratmetern. Bis zu 9.000 Touristen kommen dafür pro Jahr ins Dorf. Doch nicht nur deswegen: Ein Holzschuppen wurde zum Tauschhaus umfunktioniert, eine Filzmanufaktur entstand und Obst und Kräuter werden zu besonderen kulinarischen Spezialitäten weiter verarbeitet.

International bekannt ist das Dorf westlich des Plauer Sees inzwischen aber vor allem für die Lehmbauschule, in der sich Gäste aus ganz Europa und darüber hinaus ausbilden lassen. Auch interessierte Laien können sich in Schnupperkursen ausprobieren und lernen, was Bauen mit Lehm für die Seele bedeutet: Ressourcen schonendes und gleichzeitig ästhetisches Bauen. Träger all dieser Aktivitäten ist der Verein FAL. Die Abkürzung steht für Förderung ökologisch-ökonomisch angemessener Lebensverhältnisse. Und darum geht es dem Verein: Möglichst vielen Menschen in der Region im Einklang mit der Natur einen Platz zum Leben und Wohnen schenken. Nach der Wende bedeutete das vor allem, Beschäftigung zu schaffen, um Abwanderung zu vermeiden. Heute bedeutet es: Menschen, die durch das vielfältige Angebot in Wangelin angelockt werden, die Möglichkeit zu eröffnen, hier neu anzufangen.

Stadt auf dem Land – heute und gestern

Die Idee hinter dem sozialistischen Musterdorf Mestlin könnte aus der Gegenwart stammen: Die Urbanisierung des Landes, Landflucht vermeiden, den ländlichen Raum lebenswert gestalten. In den 50er Jahren nahm die DDR dafür viel Geld in die Hand. Den Dorfbewohnern sollte es an nichts fehlen: Krankenhaus, Restaurant, Geschäfte, moderne Wohnungen, Kindergarten, Oberschule – und ein wohnortnahes Kulturhaus. Das Konzept ging auf: In Mestlin blühte das Leben und das Kulturhaus war der Mittelpunkt des Ortes. 180 Musterdörfer dieser Art sollten in der DDR entstehen – aus Geldmangel blieb Mestlin das einzige. Nach der Wende gab es auch hier keine Mittel mehr und das Kulturhaus musste schließen.
Seit 2008 bemüht sich der Verein Denkmal Kultur Mestlin rund um Claudia Stauß, den Prachtbau wieder zum Treffpunkt für die Menschen zu machen. Dafür mussten die gelernte Bühnenmeisterin und ihre Mitstreiter fast bei null anfangen: Die vorherigen Pächter hatten alles Mobiliar und Equipment mitgenommen, Leitungen waren kaputtgefroren. Mit Hilfe von regelmäßigen Subbotniks – ehrenamtlichen Arbeitseinsätzen an Samstag (subbota ist russisch und heißt Samstag) – konnten bereits 2008 wieder Veranstaltungen stattfinden, 2009 begannen parallel die Umbauarbeiten, Schritt für Schritt bis heute. Insgesamt sind schon 1,5 Millionen Euro Fördermittel verbaut. Für einen ehrenamtlichen Verein eine große Summe. Seit 2011 ist das Gebäude als national bedeutsames Denkmal anerkannt. Wer über Kulturpolitik im ländlichen Raum spricht, kommt an Mestlin mittlerweile nicht mehr vorbei. Und dass alles nur durch die Beharrlichkeit einer Kerngruppe von 15 Ehrenamtlichen.

Dorfgestaltung mit Trompeten und Herz

Um zu verstehen was im 478- Seelenort Witzin gerade passiert, gibt es eine schöne Geschichte: 2012 musste der Kindergarten wegen Unwirtschaftlichkeit schließen. Ein Jahr später öffnete er wieder mit nur einem Kind. Inzwischen sind es 39 Kinder. Die Gemeinde wächst, vor allem durch junge Familien. Grund dafür sind mutige Vereine und der unkonventionelle Bürgermeister Hans Hüller, der sich immer wieder Neues für sein Dorf einfallen lässt. 2015 frischte der gelernte Bäcker und Programmierer seine Trompetenkenntnisse auf und gründete ein Dorforchester. Um für Nachwuchs in den Musikgruppen zu sorgen, organisierte er 60 Trompeten und Gitarren und glaubte an die Neugier der Kinder. Der Plan ging auf: Die „Witziner Dorfmusikanten“ wuchsen auf 70 Musiker an. Manche der Kinder haben wieder aufgegeben, aber Hans Hüller ist sich sicher, dass der Samen gut gesät ist. Schließlich gibt es noch andere Aktivitäten, bei denen sie mitmachen können: Sich beim Heimatquizabend mit den älteren Dorfbewohnern messen oder beim Brotbacken für das nächste Dorffest mit anpacken. 

Ideen für Witzin gehen dem Bürgermeister nicht aus. Seine neueste Vision: Witzin zum Bioenergiedorf machen. Dafür testet er gerade eine Solaranlage, Marke Eigenbau. Wenn die funktioniert, kann sie zur Blaupause für andere Haushalte werden. Auf die Frage, was das Geheimnis von Witzin ist, weiß er schnell eine Antwort: „Et löpt einfach. Miteinander reden, kurze Wege nutzen. Und wenn Worte nicht mehr reichen, dann müssen Taten sprechen.“


Neuland gewinnen e.V.

Es gibt Menschen, die mit ihrem Enthusiasmus anstecken, die verrückt genug sind, Neues zu wagen, wild entschlossen, ihr Lebensumfeld mit zu gestalten, Lösungen für Herausforderungen des ländlichen Raums finden und damit ganz nebenbei Beispiele für die Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft liefern. Seit 2017 bietet der Verein „Neuland gewinnen“ diesen Menschen ein Dach und gibt dem vielfältigen Engagement eine gemeinsame und starke Stimme im gesellschaftlichen Diskurs. Ab 2020 bietet er auch Lernreisen zu diesen Werkstätten des guten Lebens an. 

Mehr Informationen zum Verein und den Lernreisen unter www.neulandgewinner.de/verein.html oder per Mail unter lernreisen@neulandgewinnen.org

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