Von Pferden Stärke lernen

Von Pferden Stärke lernen

In Wienrode am Rande des Harzes begleitet die Reittherapeutin Steffi Halupnik Menschen auf dem Weg zur Selbsterkenntnis und zu einem empathischen Umgang mit anderen. Denn sie glaubt: Um den großen Herausforderungen unserer Gesellschaft zu begegnen, braucht es selbstbewusste, starke Persönlichkeiten, die sich für die Demokratie einsetzen. Ein Ortsbesuch.

Sandro, der große Fuchs mit den weißen Fesseln, setzt elegant einen Huf vor den
anderen, gemächlich geht er am Rand der kleinen Straße, die aus dem Dorf hinausführt. Auf seinem Rücken sitzt Merle, 11 Jahre alt, ihr lockiger brauner Zopf schaut unter dem schwarzen Reithelm hervor. Sie hält die Zügel in der Hand, während Sandro sich entspannt in Richtung Kirschbaum-Allee bewegt – dort hängen die Früchte gerade rot und reif vom Baum, vom Pferderücken aus gut erreichbar. Seit sie sechs Jahre alt ist reitet Merle, hat Kontakt zu Pferden. „Das hat mich viel mutiger gemacht“, sagt sie. „Vor vielem hab’ ich keine Angst mehr.“

Ein Besuch in Wienrode, einem Ortsteil der 20.000-Einwohner*innen-Stadt Blankenburg, gelegen am östlichen Rand des Harzes. 800 Menschen leben hier, aber an diesem Sommertag im Juli ist kein Mensch auf der Straße zu sehen. Steffi Halupnik, hennarotes Haar, schmale Jeans und Turnschuhe, öffnet das Tor ihres alten, denkmalgeschützten Vierseithofs an der Langen Straße, die einmal quer durch den Ort führt. Die Psychologin leitet die Reitgruppe von Merle und den beiden
anderen Mädchen, die heute in die Kirschen reiten – aber sie ist viel mehr als nur ihre Reitlehrerin.

Seit 20 Jahren bearbeitet die 45-Jährige die Psyche des Menschen – gemeinsam
mit Pferden. Sie begleitet Kinder und Jugendliche aus der Umgebung genauso wie Gruppen und interessierte Einzelpersonen aus ganz Deutschland. Halupnik ist davon überzeugt, dass der Umgang mit den „sanften und majestätischen Riesen“ ein Weg zur Selbsterkenntnis sein kann. Ein Pferd kann die innere Verfassung seines menschlichen Gegenübers spiegeln. Es ist ein Meister der nonverbalen Kommunikation, liest die Änderungen in Mimik und Gestik und nimmt selbst feine Widersprüche zwischen unseren Worten und unserer Körpersprache wahr. „Das ist eine gute Basis für die Arbeit an uns und unserem Umgang mit anderen“, sagt Halupnik.

Selbstwirksamkeit erfahren

Was sie auf ihrem Hof in Wienrode anbietet, nennt sich „Pferdegestütztes
Coaching“. Man kann es als eine Art Persönlichkeitsentwicklungs-Übung mit verteilten Rollen beschreiben: Die Pferde spiegeln den Klient*innen ihr Auftreten, ihre Verhaltensmuster, ihre Gefühlslage, dann unterstützt Halupnik die Menschen
in Gesprächen dabei, ihre Erkenntnisse in den Alltag zu überführen. Auf dem Reitplatz hinter dem alten Stall geht es darum, Selbstvertrauen, innere Stärke, Mitgefühl und Wertschätzung für sich selbst und andere zu entwickeln. „Der soziale Aspekt ist mir am wichtigsten, angesichts der Aufgaben, vor denen wir stehen: Stärkung der Demokratie, Kampf gegen Krieg und Klimawandel.
Ich denke, Veränderung gelingt am besten, wenn jede*r einzelne die Notwendigkeit erkennt und sich entscheidet, etwas anders zu machen.“ Das Rüstzeug, das es braucht, um die eigene Zukunft und damit auch die der Gemeinschaft verbessern zu können, seien innere Werte wie Empathie und Toleranz – vor allem aber die Erfahrung, selbst wirksam sein zu können. „Und das kann man in der Arbeit mit Pferden ganz konkret erfahren, zum Beispiel wenn es gelingt, ein großes und viel stärkeres Tier zu bewegen. Und zwar ohne Kräftemessen, sondern allein durch Beziehungsarbeit.“

Ein Hof namens „Lisa“

Halupnik hat 15 Jahre in Berlin gelebt und als Reittherapeutin gearbeitet, bevor sie vor vielen Jahren in ihre Heimat zurückzog und gemeinsam mit ihrem Mann mitten in Wienrode einen alten Bauernhof kaufte. Sie nannte ihn „Lisa“, nach ihrem ersten Pferd auf dem Hof, inzwischen pensioniert. Im Nachbarort lebt Halupniks Familie, im 30 Kilometer entfernten Braunlage arbeitet sie in einer psychosomatischen Klinik, auch dort mit Pferden. Schon als Kind, sagt sie, habe sie deren Nähe gesucht, „und es fasziniert mich immer mehr, was sie uns alles beibringen können.“ Die Menschen, die Steffi Halupnik als Coachin buchen, machen Krisen durch, wollen an ihrem Führungsstil arbeiten, den Zusensammenhalt in ihrer Gruppe verbessern oder einen Bildungsurlaub in Wienrode verbringen. Aber es kommen auch Leute, die sich einfach Klarheit über sich selbst verschaffen und zufriedener leben wollen. Seit Jahren sind die Kinder der Wienröder Integrations-Kita und der Wilhelm-Busch-Förderschule regelmäßig auf dem Hof.

Im Innenhof rankt Wein am Balkongeländer, eine große Sitzgruppe aus Holzmöbeln steht einladend in der Mitte, durch die offene Luke sieht man einen runden Heuballen im Speicher. Halupnik blinzelt in die Sonne. Eine der Aufgaben, die sie ihren Klient*innen stellt, lautet: Wie bringe ich ein Pferd dazu, mir freiwillig durch einen Raum zu folgen? Oder, zweites Beispiel: Wie mache ich dem großen Tier nur über Mimik und Körperhaltung klar, dass es einen bestimmten, abgesteckten Bereich – stellvertretend für meine eigenen Grenzen – nicht betreten soll? „Ein Pferd wegschieben geht nicht“, sagt die Reittherapeutin. „Das kann man also nur mental lösen, mit Köpfchen.“

Ein Dorf verstummt

Tritt einem Pferd ein Mensch gegenüber, möchte es wissen, wie es ihn einzuordnen hat. Mit welcher Energie, mit welcher Angst oder Aggression die Person kommt. Jemandem, der nicht weiß, was er will, wird kein Pferd freiwillig durch die Halle folgen. „Man muss sich also von seinen Zweifeln freimachen“, sagt Halupnik. Eine ihrer Klientinnen, schon als Kind dazu erzogen, sich anzupassen und klein zu machen, richtete sich auf dem Reitplatz auf, signalisierte plötzlich Entschlossenheit und Präsenz. „Das Schöne ist, dass eine solche Verhaltensänderung sofort Wirkung zeigt. Und diese Erfahrung ist auf viele andere Lebensbereiche übertragbar.“ 

Auch auf die Gemeinschaft, den Zusammenhalt in einem Dorf wie Wienrode? Bis vor fünf Jahren gab es hier einen Konsum, der Laden steht seitdem leer, der Rollladen ist geschlos-Zusen. Der Schlachter schräg gegenüber hat Anfang dieses Jahres zugemacht. Mitten im Ort, ebenfalls an der Langen Straße, hat ein Café mit „Trachtenstube“ eröffnet, wirbt mit „hausgemachtem Kuchen und Bio-Kaffeespezialitäten“. Hinter dem Bauzaun, der das dazugehörige Wohnhaus umgibt, leben Mitglieder der Gruppe „Weda Elysia“. Sie sind so genannte völkische Siedler und sollen Kontakt in rechtsextreme Kreise haben. Vor drei Jahren haben sie den leerstehenden Gasthof gekauft. Der Mitteldeutsche Rundfunk hat
2022 eine Dokumentation über die Siedler im Dorfkern gedreht, die die Dorfgemeinschaft spalten. Aber nahezu niemand traute sich, offen mit den Reporter*innen zu sprechen, nachdem Reifen zerstochen und Anfeindungen laut wurden. „Ein Dorf verstummt“, heißt der 30minütige Film.

Wie kann man dem etwas entgegensetzen, ohne sich ständig daran abzuarbeiten? Die eigenen Werte leben, einen respektvollen Umgang miteinander pflegen, das ist Halupniks
Weg. Fünf kleine Gruppen von Reitkindern aus dem Ort sitzen regelmäßig auf ihren Pferden. Auch die Familien versucht sie einzubeziehen, zum Beispiel beim Mensch-Pferd- Theater. Einmal im Jahr gibt es eine Aufführung, zuletzt war „Die Wienröder Dorfmusikanten“ zu sehen. Alle sind zu Kaffee, Kuchen und Live-Musik willkommen – eine Möglichkeit, ins Gespräch zu kommen. Die Pferde bringen hier Menschen zusammen, die sonst selten zusammen Kaffee trinken. Halupnik saß im Ortschaftsrat, hat in der Gemeinde auch eine Baumpflanzaktion und einen Kurzfilmabend initiiert – Angebote für ein Dorf, in dem es keinen Sportverein oder andere Freizeitaktivitäten gibt. „Wir fangen hier im Kleinen an, aber die Wirkung schwappt hoffentlich auch nach draußen.“ Die Jugendlichen, die zu Halupnik kommen, sind die, die auch bei anderen Gelegenheiten anpacken, Angebote zum Mittun schaffen, sich für ein dörfliches Miteinander engagieren.

Sich den Ängsten stellen

Hoch auf dem Rücken von Perla, einem kräftigen grauen Pferd, denkt die zehnjährige Carla über die Frage nach, was ihr der Umgang mit den Pferden gebe. „Geduld“, sagt sie
dann ernsthaft. „Und ich lerne von ihnen etwas über Freundschaft.“ Die kleine Gruppe macht sich auf den Rückweg zum Hof; aus dem Kirschenessen ist nicht allzuviel geworden, die drei Mädchen auf den Pferden waren mehr mit der Mensch-Tier-Interaktion als mit dem Pflücken beschäftigt. Denn auch Pferde lieben Kirschen, dürfen sie aber nicht essen. Kurz vor dem Dorfschild macht eines der Tiere so lange Spirenzchen, bis seine Reiterin abeit steigt, sichtlich aufgewühlt. Steffi Halupnik schwingt sich selbst auf das Pferd, stellt die Beziehungen wieder klar. Vorhin, in ihrem schönen
Innenhof, hat sie erzählt, dass die Jugendlichen im Umgang mit den Pferden lernten, sich ihren Ängsten zu stellen. Nach einer kleinen Pause setzt sich die junge Reiterin ihren
Helm wieder auf, setzt den Fuß in den Steigbügel. Ein paar Mal muckt Perla, das Pferd unter ihr, noch auf. Dann stimmt die Kommunikation, und Perla geht wie eine Eins.

Es muss nicht immer alles gleich perfekt sein

Eine aktuelle Studie hat das Ehrenamt in Brandenburg unter die Lupe genommen und eine Reihe von teils innovativen Maßnahmen unterbreitet: die Vergütung für Engagementqualifikationen, die Einbindung der Agentur für Arbeit oder den Aufbau von Ehrenamts- Datenbanken als strategisches Mittel. Ein Gespräch mit Studienleiter Professor Joachim Klewes.

Herr Klewes, Sie und Ihr Team haben die erste, sehr umfassende Studie zur Engagementförderung im Land Brandenburg vorgelegt. Was hat Sie am meisten überrascht?
Joachim Klewes: Es gibt zwar schon viele Angebote für Engagementunterstützung in den Kommunen Brandenburgs, aber unsere Daten zeigen: Die Nachfrage danach ist etwa viermal so hoch. In einem Fall, bei der Kinderbetreuung während des Ehrenamts, sogar zehnmal so hoch. Die ist bei uns in Brandenburg so gut wie nicht vorhanden. Das erschwert besonders das Engagement von Eltern und Alleinerziehenden.

Zu welchen Kernergebnissen sind Sie sonst noch gekommen?
Gute Kommunalpolitik und gute Verwaltung sind entscheidend. Wenn eine Kommune viel fürs Ehrenamt tut, entwickelt sich auch das Engagement deutlich besser. Das zeigen die Daten ganz klar. Und wir haben festgestellt, dass die Befragten aus den Vereinen und Initiativen den Status Quo der Unterstützung deutlich anders als die Befragten aus den kommunalen Verwaltungen einschätzen. Da gibt es offenbar ein Kommunikationsproblem.

Dr. Joachim Klewes leitet das Brandenburger Institut Change Centre. Er lehrte als Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und wirkte als Geschäftsführer und Aufsichtsrat mehrerer Forschungs- und Beratungsfirmen. Klewes hat jahrzehntelange Erfahrung aus Studien und Beratungsmandaten zu gesellschaftlichen Veränderungsthemen.

Wie werten Sie die Ergebnisse im Kontext der übrigen ostdeutschen Bundesländer?
Andere Bundesländer haben wir in unserer Studie nicht erhoben. Allerdings: Der repräsentative Freiwilligen-Survey zeigt seit Jahren, dass Brandenburg im Bundesländer-Vergleich immer auf den hinteren Plätzen liegt. Das gilt zum Beispiel für gemeinschaftliche Aktivitäten, Vereinsmitgliedschaften, Engagementbereitschaft oder auch die Spendentätigkeit. Aber auch die anderen ostdeutschen Bundesländer belegen die hinteren Plätze.

Welche Erklärung haben Sie, dass die ostdeutschen Bundesländer auch nach über dreißig Jahren Einheit bei diesem Thema hinterherhinken?
Das haben wir nicht erhoben. Meine These ist, dass es hauptsächlich zwei Ursachen-Komplexe gibt. Zum einen wirkt die DDR-Zeit nach. Da waren viele Menschen in ehrenamtsähnlichen Funktionen in Betrieben und Massenorganisationen aktiv. Wir Menschen im Osten sind ja nicht weniger hilfsbereit oder gemeinschaftsorientiert als die im Westen. Aber es sind eben in erheblichem Maß Gemeinschaft stiftende Strukturen erodiert. Einen Verein oder eine neue Initiative hochzufahren, dauert oft Jahrzehnte. Der zweite Aspekt ist das generelle Ausdünnen von Infrastrukturen im Osten, besonders auf dem Land: Das betrifft nicht nur die in den Flächenländern wichtige Verkehrsinfrastruktur. Sondern auch zum Beispiel Wohlfahrtsorganisationen, in deren Umfeld sich Engagement entwickelt, reicht aber bis zu Gemeindehäusern oder auch Gaststätten, in denen sich Vereine treffen. Wenn es all dies nur noch seltengibt, fällt es Menschen deutlich schwieriger sich zu engagieren.

Auf der Grundlage Ihrer Ergebnisse haben Sie umfassende Impulse als Empfehlungen unter anderem für die Landespolitik vorgestellt. Welche sind das?
Im Kern empfehlen wir auf Landesebene baldmöglichst die Entwicklung eines verbindlichen Masterplans für die Engagementförderung der Brandenburger Kommunen. Da sollten klare Ziele und Termine drinstehen. Weiter die Überprüfung relevanter Landesgesetze und sonstiger Regelungen der Landespolitik auf Engagementfreundlichkeit durch eine interfraktionelle Arbeitsgruppe. Auf dieser Grundlage könnten vielleicht sogar Änderungen in der Kommunalverfassung erarbeitet werden.

In Brandenburg kommen wir auf einen Engagementwert von zwei Milliarden Euro. Das ist Geld, das Staat und Wohlfahrtseinrichtungen sparen.

Klingt sehr abstrakt …
Mit konkreten Auswirkungen. Man könnte die Kommunen etwa dazu anhalten, einen Engagementbeirat aufzustellen, eine Engagementstrategie gemeinsam mit allen Akteuren zu erarbeiten und konkrete Ansprechpersonen für Engagement zu benennen. Damit würde man nicht nur Aufmerksamkeit und Energie aufs Thema lenken. Sondern die Bürgerschaft hätte so auch ein Anrecht darauf, Engagementförderung von der Kommune einzufordern. Sie wäre kein Bittsteller mehr.

Ihre Empfehlungen bezüglich Strategie und Ansprechpersonen erinnert sehr an deutschlandweite Programme wie etwa „Engagierte Stadt“ und „Engagiertes Land“, die von Stiftungen und Bundesfamilienministerium unterstützt werden. Muss man das Rad immer wieder neu erfinden?
Natürlich nicht. Aber wir müssen genau hinsehen, wie solche übergreifenden Programme wirken, wenn es vor Ort konkret wird. Wir vergleichen mit unseren Daten beispielsweise gerade die sechs geförderten Brandenburger Kommunen aus dem Programm Engagierte Stadt mit sechs ähnlichen, aber nicht geförderten Städten und auch mit allen Befragten in Brandenburg. Vorläufiges Ergebnis: Es gibt keine belastbaren Unterschiede. Da darf man schon einmal fragen, was diese Förderung gebracht hat.

Ein anderer Hebel für die Landespolitik zielt auf die Schulen ab. Welche Empfehlungen sind das?
Das Land verantwortet Schulpolitik und Lehrpläne. Da gibt es viele Möglichkeiten. Etwa Projekttage, in denen Schülerinnen und Schüler zu selbstgewählten Themen Engagement trainieren. Vereine und Wohlfahrtsorganisationen könnten sich in den Schulen vorstellen und fürs Ehrenamt werben. Eine andere Idee: Ausbau der Förderung von Eltern und Schülervereinen und deren Engagement.

Ein zweiter Maßnahmenkomplex bezieht sich auf den Ausbau der mobilen Beratung für Kommunen. Was soll das sein?
Mobile Beratung der Kommunen gibt es bei uns beispielsweise über das Brandenburgische Institut für Gemeinwesenberatung zu mehreren Themen. Auch das Forum ländlicher Raum bietet mit verschiedenen Seminar- und Dialogformaten wertvolle Plattformen. Wir schlagen vor, institutionsübergreifend Beratungsangebote zum Thema Engagement auszubauen und gebündelt an die Kommunen heranzutragen.

Was schwebt Ihnen konkret vor?
Die Inhalte können breit gefächert sein. Man könnte den Kommunen zum Beispiel Hilfe anbieten, welche Angebote man für Engagierte ganz leicht vor Ort realisieren kann und welche rechtlichen, finanziellen und organisatorischen Aspekte dabei zu beachten sind. Oder ganz einfach: Wie organisiere ich eigentlich ein Fest der Vereine und was kann ich dabei von anderen Kommunen lernen? Etwas anspruchsvoller ist vielleicht die Beratung, wie eine kommunale Ehrenamtsstrategie gemeinsam mit allen Akteuren entwickelt werden kann.

Gibt es nicht schon eine Reihe dieser Unterstützungsangebote bereits von der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt, der DSEE?
Die Online-Angebote der DSEE sind wirklich sehr gut. Sie wenden sich aber eher an Vereine und einzelne Engagierte, nicht an Kommunen. Wenn man dort in die Infrastruktur hineinwirken möchte, muss man sich an die Bürgermeister und Bürgermeisterinnen oder Verwaltungschefs direkt wenden. Das könnte Aufgabe der mobilen Beratung sein.

Geradezu revolutionär mutet ihr Vorschlag für eine Umkehr des Vergütungsprinzips für Engagementqualifikation an. Können Sie das erklären?
Engagierte leisten mit ihrer ehrenamtlichen Arbeit für die Gemeinschaft einen Gegenwert von vielen Milliarden Euro im Jahr, allein in Nordrhein-Westfalen sind das laut einer FORSA-Studie 19 Milliarden Euro nur auf Basis des Mindestlohns. Wenn wir das auf Brandenburg umrechnen, kämen wir auf einen Engagementwert von über zwei Milliarden Euro im Jahr. Das ist Geld, das Staat und Wohlfahrtseinrichtungen sparen. Warum also sollten Engagierte dann noch selbst für ihre Fortbildung zahlen? Wenn Brandenburg nur ein Prozent der genannten Summe beispielsweise in die Fortbildung für Engagierte stecken würde, wären das 20 Millionen Euro im Jahr. Eine Investition, die vielfach Früchte für die Gemeinschaft tragen würde.

Schauen wir auf Ihre Empfehlungen auf kommunaler Ebene. Außer jener zur Entwicklung einer lokalen Engagementstrategie schlagen Sie den Aufbau einer Datenbank vor. Klingt zunächst banal.
Gute Ideen sind oft einfach. Wenn man zusammenstellt, welche Vereine und Initiativen es in einer Kommune gibt, kommt man im Idealfall mit ihnen ins Gespräch. Man lernt die Verantwortlichen kennen und hört, was genau gemacht wird. Schon ist man mitten im Netzwerkaufbau und wird Teil der Engagierten-Landschaft. Der Aufbau einer Datenbank hat also nicht nur einen ganz praktischen Nutzen, sondern auch einen strategischen. Genauso wie etwa der Aufbau eines kommunalen Verleihservices. Man erhebt als Kommune die Bedarfe und stellt dann entsprechendes Material zur Verfügung, etwa eine Garnitur fürs Vereinsfest, Transportfahrzeuge, einen Beamer, Werkzeuge oder ein Lager, abgewickelt über die kommunalen Bauhöfe oder Bibliotheken. Auch daskönnte als Ansatz genutzt werden, um mit Engagierten in einen stärkeren Austausch zu kommen.

Und in den Aufbau eines Engagement-Rats münden, den Sie den Kommunen empfehlen?
Vielleicht. In jedem Fall sorgt die Institutionalisierung solcher Gremien – wie auch ein Engagement-Ausschuss im Landtag – dafür, dass man sich mit dem Thema intensiver beschäftigen muss. Man bündelt Expertise und fördert die Vernetzung. Außerdem schaffen solche Gremien Öffentlichkeit.

Ein letzter interessanter Gedanke in Ihrer Studie ist die Intensivierung der Zusammenarbeit mit der Agentur für Arbeit. Was hat es damit auf sich?
Wir haben diesen Vorschlag aus den qualitativen Einzelbeiträgen zur Befragung aufgegriffen, weil wir ihn spannend fanden. Der Kerngedanke: Ehrenamtliche Angebote könntenden Wiedereinstieg ins Berufsleben vorbereiten, mindestens aber das Selbstwertgefühl steigern.

Wie ließe sich so etwas implementieren?
Das geht nur top-down, da muss man mit einer Person aus der Leitungsebene der Agentur für Arbeit ins Gespräch kommen. Man könnte gemeinsam Modelle entwickeln, sie in kleinen Regionen ausprobieren, wissenschaftlich evaluieren, anpassen und dann ausrollen.

Klingt nach einem langen Weg.
Ja, aber es muss ja nicht immer alles gleich perfekt sein. Das gilt ja für alle unsere Vorschläge. Man kann schnell und in unterschiedlichen Variationen Prototypen mit Methoden wie Design Thinking entwickeln und dann an verschiedenen Orten testen. Was am besten funktioniert, wird weiterentwickelt. Es geht ums Anfangen.

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