Von Pferden Stärke lernen

Von Pferden Stärke lernen

In Wienrode am Rande des Harzes begleitet die Reittherapeutin Steffi Halupnik Menschen auf dem Weg zur Selbsterkenntnis und zu einem empathischen Umgang mit anderen. Denn sie glaubt: Um den großen Herausforderungen unserer Gesellschaft zu begegnen, braucht es selbstbewusste, starke Persönlichkeiten, die sich für die Demokratie einsetzen. Ein Ortsbesuch.

Sandro, der große Fuchs mit den weißen Fesseln, setzt elegant einen Huf vor den
anderen, gemächlich geht er am Rand der kleinen Straße, die aus dem Dorf hinausführt. Auf seinem Rücken sitzt Merle, 11 Jahre alt, ihr lockiger brauner Zopf schaut unter dem schwarzen Reithelm hervor. Sie hält die Zügel in der Hand, während Sandro sich entspannt in Richtung Kirschbaum-Allee bewegt – dort hängen die Früchte gerade rot und reif vom Baum, vom Pferderücken aus gut erreichbar. Seit sie sechs Jahre alt ist reitet Merle, hat Kontakt zu Pferden. „Das hat mich viel mutiger gemacht“, sagt sie. „Vor vielem hab’ ich keine Angst mehr.“

Ein Besuch in Wienrode, einem Ortsteil der 20.000-Einwohner*innen-Stadt Blankenburg, gelegen am östlichen Rand des Harzes. 800 Menschen leben hier, aber an diesem Sommertag im Juli ist kein Mensch auf der Straße zu sehen. Steffi Halupnik, hennarotes Haar, schmale Jeans und Turnschuhe, öffnet das Tor ihres alten, denkmalgeschützten Vierseithofs an der Langen Straße, die einmal quer durch den Ort führt. Die Psychologin leitet die Reitgruppe von Merle und den beiden
anderen Mädchen, die heute in die Kirschen reiten – aber sie ist viel mehr als nur ihre Reitlehrerin.

Seit 20 Jahren bearbeitet die 45-Jährige die Psyche des Menschen – gemeinsam
mit Pferden. Sie begleitet Kinder und Jugendliche aus der Umgebung genauso wie Gruppen und interessierte Einzelpersonen aus ganz Deutschland. Halupnik ist davon überzeugt, dass der Umgang mit den „sanften und majestätischen Riesen“ ein Weg zur Selbsterkenntnis sein kann. Ein Pferd kann die innere Verfassung seines menschlichen Gegenübers spiegeln. Es ist ein Meister der nonverbalen Kommunikation, liest die Änderungen in Mimik und Gestik und nimmt selbst feine Widersprüche zwischen unseren Worten und unserer Körpersprache wahr. „Das ist eine gute Basis für die Arbeit an uns und unserem Umgang mit anderen“, sagt Halupnik.

Selbstwirksamkeit erfahren

Was sie auf ihrem Hof in Wienrode anbietet, nennt sich „Pferdegestütztes
Coaching“. Man kann es als eine Art Persönlichkeitsentwicklungs-Übung mit verteilten Rollen beschreiben: Die Pferde spiegeln den Klient*innen ihr Auftreten, ihre Verhaltensmuster, ihre Gefühlslage, dann unterstützt Halupnik die Menschen
in Gesprächen dabei, ihre Erkenntnisse in den Alltag zu überführen. Auf dem Reitplatz hinter dem alten Stall geht es darum, Selbstvertrauen, innere Stärke, Mitgefühl und Wertschätzung für sich selbst und andere zu entwickeln. „Der soziale Aspekt ist mir am wichtigsten, angesichts der Aufgaben, vor denen wir stehen: Stärkung der Demokratie, Kampf gegen Krieg und Klimawandel.
Ich denke, Veränderung gelingt am besten, wenn jede*r einzelne die Notwendigkeit erkennt und sich entscheidet, etwas anders zu machen.“ Das Rüstzeug, das es braucht, um die eigene Zukunft und damit auch die der Gemeinschaft verbessern zu können, seien innere Werte wie Empathie und Toleranz – vor allem aber die Erfahrung, selbst wirksam sein zu können. „Und das kann man in der Arbeit mit Pferden ganz konkret erfahren, zum Beispiel wenn es gelingt, ein großes und viel stärkeres Tier zu bewegen. Und zwar ohne Kräftemessen, sondern allein durch Beziehungsarbeit.“

Ein Hof namens „Lisa“

Halupnik hat 15 Jahre in Berlin gelebt und als Reittherapeutin gearbeitet, bevor sie vor vielen Jahren in ihre Heimat zurückzog und gemeinsam mit ihrem Mann mitten in Wienrode einen alten Bauernhof kaufte. Sie nannte ihn „Lisa“, nach ihrem ersten Pferd auf dem Hof, inzwischen pensioniert. Im Nachbarort lebt Halupniks Familie, im 30 Kilometer entfernten Braunlage arbeitet sie in einer psychosomatischen Klinik, auch dort mit Pferden. Schon als Kind, sagt sie, habe sie deren Nähe gesucht, „und es fasziniert mich immer mehr, was sie uns alles beibringen können.“ Die Menschen, die Steffi Halupnik als Coachin buchen, machen Krisen durch, wollen an ihrem Führungsstil arbeiten, den Zusensammenhalt in ihrer Gruppe verbessern oder einen Bildungsurlaub in Wienrode verbringen. Aber es kommen auch Leute, die sich einfach Klarheit über sich selbst verschaffen und zufriedener leben wollen. Seit Jahren sind die Kinder der Wienröder Integrations-Kita und der Wilhelm-Busch-Förderschule regelmäßig auf dem Hof.

Im Innenhof rankt Wein am Balkongeländer, eine große Sitzgruppe aus Holzmöbeln steht einladend in der Mitte, durch die offene Luke sieht man einen runden Heuballen im Speicher. Halupnik blinzelt in die Sonne. Eine der Aufgaben, die sie ihren Klient*innen stellt, lautet: Wie bringe ich ein Pferd dazu, mir freiwillig durch einen Raum zu folgen? Oder, zweites Beispiel: Wie mache ich dem großen Tier nur über Mimik und Körperhaltung klar, dass es einen bestimmten, abgesteckten Bereich – stellvertretend für meine eigenen Grenzen – nicht betreten soll? „Ein Pferd wegschieben geht nicht“, sagt die Reittherapeutin. „Das kann man also nur mental lösen, mit Köpfchen.“

Ein Dorf verstummt

Tritt einem Pferd ein Mensch gegenüber, möchte es wissen, wie es ihn einzuordnen hat. Mit welcher Energie, mit welcher Angst oder Aggression die Person kommt. Jemandem, der nicht weiß, was er will, wird kein Pferd freiwillig durch die Halle folgen. „Man muss sich also von seinen Zweifeln freimachen“, sagt Halupnik. Eine ihrer Klientinnen, schon als Kind dazu erzogen, sich anzupassen und klein zu machen, richtete sich auf dem Reitplatz auf, signalisierte plötzlich Entschlossenheit und Präsenz. „Das Schöne ist, dass eine solche Verhaltensänderung sofort Wirkung zeigt. Und diese Erfahrung ist auf viele andere Lebensbereiche übertragbar.“ 

Auch auf die Gemeinschaft, den Zusammenhalt in einem Dorf wie Wienrode? Bis vor fünf Jahren gab es hier einen Konsum, der Laden steht seitdem leer, der Rollladen ist geschlos-Zusen. Der Schlachter schräg gegenüber hat Anfang dieses Jahres zugemacht. Mitten im Ort, ebenfalls an der Langen Straße, hat ein Café mit „Trachtenstube“ eröffnet, wirbt mit „hausgemachtem Kuchen und Bio-Kaffeespezialitäten“. Hinter dem Bauzaun, der das dazugehörige Wohnhaus umgibt, leben Mitglieder der Gruppe „Weda Elysia“. Sie sind so genannte völkische Siedler und sollen Kontakt in rechtsextreme Kreise haben. Vor drei Jahren haben sie den leerstehenden Gasthof gekauft. Der Mitteldeutsche Rundfunk hat
2022 eine Dokumentation über die Siedler im Dorfkern gedreht, die die Dorfgemeinschaft spalten. Aber nahezu niemand traute sich, offen mit den Reporter*innen zu sprechen, nachdem Reifen zerstochen und Anfeindungen laut wurden. „Ein Dorf verstummt“, heißt der 30minütige Film.

Wie kann man dem etwas entgegensetzen, ohne sich ständig daran abzuarbeiten? Die eigenen Werte leben, einen respektvollen Umgang miteinander pflegen, das ist Halupniks
Weg. Fünf kleine Gruppen von Reitkindern aus dem Ort sitzen regelmäßig auf ihren Pferden. Auch die Familien versucht sie einzubeziehen, zum Beispiel beim Mensch-Pferd- Theater. Einmal im Jahr gibt es eine Aufführung, zuletzt war „Die Wienröder Dorfmusikanten“ zu sehen. Alle sind zu Kaffee, Kuchen und Live-Musik willkommen – eine Möglichkeit, ins Gespräch zu kommen. Die Pferde bringen hier Menschen zusammen, die sonst selten zusammen Kaffee trinken. Halupnik saß im Ortschaftsrat, hat in der Gemeinde auch eine Baumpflanzaktion und einen Kurzfilmabend initiiert – Angebote für ein Dorf, in dem es keinen Sportverein oder andere Freizeitaktivitäten gibt. „Wir fangen hier im Kleinen an, aber die Wirkung schwappt hoffentlich auch nach draußen.“ Die Jugendlichen, die zu Halupnik kommen, sind die, die auch bei anderen Gelegenheiten anpacken, Angebote zum Mittun schaffen, sich für ein dörfliches Miteinander engagieren.

Sich den Ängsten stellen

Hoch auf dem Rücken von Perla, einem kräftigen grauen Pferd, denkt die zehnjährige Carla über die Frage nach, was ihr der Umgang mit den Pferden gebe. „Geduld“, sagt sie
dann ernsthaft. „Und ich lerne von ihnen etwas über Freundschaft.“ Die kleine Gruppe macht sich auf den Rückweg zum Hof; aus dem Kirschenessen ist nicht allzuviel geworden, die drei Mädchen auf den Pferden waren mehr mit der Mensch-Tier-Interaktion als mit dem Pflücken beschäftigt. Denn auch Pferde lieben Kirschen, dürfen sie aber nicht essen. Kurz vor dem Dorfschild macht eines der Tiere so lange Spirenzchen, bis seine Reiterin abeit steigt, sichtlich aufgewühlt. Steffi Halupnik schwingt sich selbst auf das Pferd, stellt die Beziehungen wieder klar. Vorhin, in ihrem schönen
Innenhof, hat sie erzählt, dass die Jugendlichen im Umgang mit den Pferden lernten, sich ihren Ängsten zu stellen. Nach einer kleinen Pause setzt sich die junge Reiterin ihren
Helm wieder auf, setzt den Fuß in den Steigbügel. Ein paar Mal muckt Perla, das Pferd unter ihr, noch auf. Dann stimmt die Kommunikation, und Perla geht wie eine Eins.

Verbindung gesucht

Hoyerswerda ist eine der Städte, die durch die Braunkohle groß wurden – nach dem Ende ihrer Ära zerfiel sie in zwei Teile. Alt- und Neustadt klaffen nicht nur räumlich auseinander. Um die beiden Stadtteile zu einem gefühlten Ganzen zu machen, wird ein Erlebniswanderweg wie ein Ring um die Stadt gelegt: Der 20 Kilometer lange Grüne Saum“. Eine Ortsbegehung.
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Hier also hat das neue Hoyerswerda seinen Anfang genommen. Auf dieser grünen Wiese am westlichen Altstadtrand, zehn Minuten zu Fuß vom Bahnhof entfernt. Mitte der 50er Jahre, nur ein paar Jahre nach der Gründung der DDR, reihte sich hier Wohnbaracke an Wohnbaracke. „Tausend-Mann-Lager“ hieß das Gelände im Volksmund, dort schliefen die Ingenieure und Bauarbeiter, die Hoyerswerda groß machen sollten. Ihr Auftrag: In 15 Kilometern Entfernung das „VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe“ zu errichten und in Hoyerswerda Wohnungen für seine Mitarbeiter*innen aus dem Boden zu stampfen. Die Braunkohle und ihre Veredelung ließ die kleine Stadt in der Lausitz in nur 20 Jahren von 7000 auf 72 000 Einwohner wachsen. Und schnell belieferte der „VEB Schwarze Pumpe“ ganz Ostdeutschland mit Gas, Strom und Kohle-Briketts.

Ein historischer Ort also, vor dem Toni Züchner an diesem eisigen Freitagnachmittag im Januar steht und seinen Blick über die Brache schweifen lässt. Ende April, zur Walpurgisnacht, wird hier das Holz für das Hexenfeuer aufgeschichtet und abgebrannt. Den Rest des Jahres bleibt das Gelände im „Gewerbegebiet Altstadt“ ungenutzt. Züchner, 32, Projektleiter in der Kulturfabrik Hoyerswerda e.V., könnte sich auf dem geschichtsträchtigen Boden gut eine Freiluftausstellung vorstellen, die Hoyerswerdas so eng mit der Kohle verwobene Entwicklung erzählt. Er spricht über diese Idee, als sähe er vor seinem geistigen Auge bereits die wetterfesten Ausstellungstafeln mit Fotos der Bauarbeiter, die Stein auf Stein aufeinandersetzten, Wohnblock um Wohnblock hochzogen. Vielleicht, überlegt Züchner, würde sich neben der Ausstellung auch ein Café gut machen?

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Ein grünes Klassenzimmer

Das ehemalige „Tausend-Mann-Lager“ liegt an einer gezackten Route, die der KuFa-Projektleiter mit schwarzem Filzstift auf den Stadtplan von Hoyerswerda gezeichnet hat. Der ausgebeulte Kreis um die Stadt ist 20 Kilometer lang und trägt den schönen Namen „Grüner Saum“. Dahinter steht der Plan eines Kultur- und Erlebniswanderwegs, eines Rundgangs um Hoyerswerda, der Sehenswürdigkeiten und Naherholungsangebote miteinander verbindet. Das Angebot am Wegesrand soll breit gefächert sein, von einem Naturspielplatz bis zum grünen Klassenzimmer, von der Sommergalerie bis zum Café am Teich, von der Streuobstwiese bis zum Familienpark mit Sportgeräten. Einige der geplanten Stationen gibt es bereits – wie zum Beispiel „Eis-Ulis Leckstation“, wo es das „wahrscheinlich leckerste Eis der Lausitz“ gibt. Vieles andere aber muss neu erdacht und gebaut werden.

Schönheit am Wegesrand

Der „Grüne Saum“ gehört zu den Projekten, die Züchner in der Kulturfabrik betreut. Sie ist das soziokulturelle Herz der Stadt, ein 1994 gegründeter Verein, der in einem Haus mit langer Geschichte sitzt. 1880 erbaut war es zunächst Ballund Gesellschaftshaus, später Reform-Real-Gymnasium, Lazarett, zu DDR-Zeiten das Pionierhaus „Grete Walter“, nach der Wende Kinder- und Jugendtreff. 1996 übernahm es die Kulturfabrik, zog ein, dann wieder aus, die Substanz war zu marode. 16 Jahre später kehrte der Verein in ein saniertes Haus mit lichtem Anbau zurück. Dort gibt es heute Werkstätten für Holz und Ton, Proberäume und einen Ballsaal, ein Café, ein Programmkino, eine Kinderbibliothek und Seminarräume. Die KuFa will allen offen stehen, Infrastruktur zur Verfügung stellen, Kultur „erleb- und erreichbar“ machen, wie Kufa-Geschäftsführer und Vereinsgründer Uwe Proksch sagt. „Der Grüne Saum war Uwes Idee“, sagt Toni Züchner; außer Proksch und ihm gehören Dagmar Steuer und Olaf Winkler von der Initiative Mitmachstadt Hoyerswerda zum Kernteam. Seit kurzem gibt es auch einen eigens gegründeten kommunalen Entwicklungsbeirat mit 30 Mitgliedern. Das Projekt steht auf breiten Füßen.

Einen Rundgang erkundet man am besten mit einem Rundgang: Von der KuFa aus geht man ein paar Minuten, um auf die Route des Grünen Saums zu gelangen. Die erste Station ist der Bahnhof. Das Gebäude wirkt abweisend, die Bahnhofshalle ist geschlossen, es gibt weder Backshop noch Coffee to go. Die Sehenswürdigkeit liegt draußen auf der Straße, neben der Bahnhofsallee. Der älteste Pflasterweg der Stadt ist gerade frisch saniert worden, belegt mit grauem Stein, den ein elegantes schwarzes Muster durchbricht. „Viele freuen sich darüber“, sagt Züchner. Schönheit auf den täglichen Wegen wirkt sich positiv auf das Wohlbefinden der Bürger*innen aus. Während des Gehens erzählt Züchner über seine Heimatstadt. Er ist 1990 in Hoyerswerda geboren und im „WK 10“ aufgewachsen – in einem jener Wohnkomplexe, die in den 60er und 70er Jahren gebaut wurden, um den Arbeitern und Arbeiterinnen des Kombinats „Schwarze Pumpe“ modernen Wohnraum zu bieten.

Die neue Großsiedlung entstand jenseits des Flusses, der „Schwarzen Elster“. Dort erhob sich ab 1955 die Neustadt in den Himmel. Eine eigene Stadt mit immer mehr Wohnungen, Kitas, Schulen, Ärzten. Sie bekam ein Kranken- und ein Konzerthaus, Geschäfte und Gastronomie. Hoyerswerda wurde, das kann man in der Stadtchronik nachlesen, zu einem Experimentierfeld für den industriellen Wohnungsbau der DDR – und nach Eisenhüttenstadt die zweite gefeierte „sozialistische Wohnstadt“. Überdurchschnittlich viele junge Menschen zogen nach Hoyerswerda, der Wohnungen und der Jobs in der Kohle wegen. Zeitweise galt die Stadt als kinderreichste der DDR. Mit den so genannten „Vertragsarbeitern“ aus anderen sozialistischen Ländern lebte die Bevölkerung friedlich zusammen, aber auch weitgehend kontaktlos.

Zurück zu Hause: Toni Züchner kehrte nach acht Jahren in seine Heimatstadt zurück – um dort etwas zu bewegen.

Brückenschlag in die Neustadt

Den Wohnkomplex 10, in dem Züchners Familie lebte, gibt es heute nicht mehr. Auch seine Grundschule wurde irgendwann abgerissen. Beinahe so schnell, wie es gewachsen war, schrumpfte Hoyerswerda nach der Wende zusammen. 1990 wurde das Gaskombinat stillgelegt und größtenteils zurückgebaut, Tausende Jobs gingen verloren. Viele Neustädter zogen wieder weg aus Hoyerswerda. Von der offiziellen Vollbeschäftigung in DDR-Zeiten stieg die Arbeitslosenquote in den 90er Jahren teilweise auf 26 Prozent. Rechtsextreme gewannen an Sichtbarkeit, im Juni 1991 gründeten sie eine selbsternannte „Bürgerwehr“. Am 17. September griffen Neonazisvietnamesische Zigarettenhändler auf dem zentralen Platz in der Hoyerswerdaer Neustadt an. Als sie in ihr Gastarbeiterquartier flüchteten, folgte ihnen der Mob, der teilweise auf 500 Teilnehmer anschwoll. Tagelang belagerten rechte Randalierer die Unterkunft der Vietnamnesen sowie ein Asylbewerberheim, es flogen Stahlkugeln und Brandflaschen, 30 Menschen wurden verletzt. Die Polizei wirkte machtlos, ließ die Angegriffenen schließlich mit Bussen aus der Stadt bringen. „Endlich ausländerfrei“, jubelten die Rechtsradikalen.

Die Häuser, vor denen sich all das abspielte, stehen auch nicht mehr. Kein Grüner Saum kann an ihnen entlangführen und an das Geschehene erinnern. Aus mehr als 70 000 Einwohner*innen sind heute 31 000 geworden; zwei Drittel von ihnen leben in der Neustadt. Die Stadt Hoyerswerda hat sich bemüht, den Abstand zwischen Altund Neustadt nicht noch weiter zu vergrößern und von den äußeren Rändern mit dem Abriss begonnen. Doch trotzdem zeigt der Spaziergang mit Toni Züchner, wie groß die Entfernung zwischen dem alten und dem neuen Hoyerswerda tatsächlich ist. Geographisch durch Fluss und Deichanlagen, optisch durch eine hübsch sanierte Altstadt und die Plattenbauten gegenüber. Im Grunde ist es immer noch diese Trennung, auf die Projekte wie der Grüne Saum reagieren. „Die Altstädter bleiben in der Altstadt“, sagt Züchner, „die Neustädter auf ihrer Seite. Die Verbindung fehlt.“ Wie ein Ring soll sich der neue Erlebnisweg um die beiden Stadtteile legen. In der Projektbeschreibung auf der KuFa-Homepage heißt es: „Wir sehen den Grünen Saum als Brückenschlag zwischen Plattenbaubewohnern und Eigenheimsiedlern, zwischen Spaziergangsforschern und Touristen, zwischen Naturliebhabern und Hundebesitzern, Schul- und Kitagruppen.“ Ein „stadtumfassendes Projekt“ soll der Grüne Saum werden, damit jeder „in seiner Ecke“ die Chance bekomme, sein unmittelbares Umfeld mit zu gestalten.

Toni Züchner, Neulandgewinner Runde 6. Hoyerswerda, von seinen Bewohner*innen auch liebevoll Hoywoj genannt, hat eine Alt- und eine Neustadt, zwischen denen die Schwarze Elster fließt. Was schon immer durch den Fluss getrennt war, klafft allerdings – durch den Abriss vieler Plattenbauten – immer stärker auseinander. Was die Stadt also braucht, ist: Verbindung.

Toni Züchner will sie schaffen. Der Plan, den der Projektleiter der Kulturfabrik e.V. gemeinsam mit einem breiten Bündnis anderer Akteur*innen vor Ort schmiedet, nennt sich „Der Grüne Saum“ – und ist ein 20 Kilometer langer Rundweg um Hoyerswerda, der Alt- und Neustadt umkreisen und wieder zu einem großen Ganzen machen soll. Züchner, der aus Hoyerswerda stammt und nach einem Kulturmanagement-Studium auch dorthin zurückgekehrt ist, will etwas dafür tun, dass man in seiner Heimatstadt „gut leben kann“, dass die Stimmung in der Bürgerschaft wieder optimistischer wird.

Den „Grünen Saum“ stellen sich Züchner und seine Projektpartner*innen als Kulturwanderweg und Naherholungspfad vor – mit einer attraktiv gestalteten grünen Mitte zwischen Alt- und Neustadt. Am Wegesrand sollen Wandernde, Spaziergänger*innen und Fahrradfahrer*innen Gastronomie und Spielplätze besuchen können. Den Pfad werden Grillplätze und eine Freilichtbühne säumen, Streuobstwiesen und temporäre Außen-Galerien, ein Naturlehrpfad sowie ein grünes Klassenzimmer.

Toni Züchner will das Projekt zunächst mit der Bevölkerung diskutieren und dann in enger Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung umsetzen. „Der kommunale Entwicklungsbeirat ist bereits gegründet, alles steht in den Startlöchern“, sagt er. „Ich bin sicher, dass das Projekt uns dabei helfen wird, den Strukturwandel zu bewältigen.“

Aroniabeeren für den Naschgarten

Züchner hat sich warm angezogen, Parka, Mütze, festes Schuhwerk. „Das größte gesellschaftliche Thema ist bei uns nach wie vor der Strukturwandel“, erklärt er im Gehen. „Fast jeder hier hatte direkt oder indirekt mit der Braunkohle zu tun.“ Die Politik habe viele Versprechungen gemacht, einiges davon sei auch in die Wege geleitet worden – aber die Ansiedlung neuer Industriezweige dauere eben. „Es gibt immer noch nichts zum Sehen und Anfassen, das frustriert die Leute.“ Die AfD ist die stärkste Kraft im Stadtrat, die Stadt ist stark gealtert. Gefühlt fehle die Altersgruppe zwischen 19 und 30 Jahren komplett in Hoyerswerda, sagt Züchner. „Aber die große Abwanderungswelle der 90er Jahre ist vorbei. Die guten weichen Standortfaktoren lassen mehr junge Leute zur Familiengründung zurück-kehren.“ Auch er ist erst einmal weggegangen, zum Kulturmanagement-Studium nach Görlitz. Acht Jahre später kam er als Chef des örtlichen Kinos zurück.

Über zehn Kilometer ist Züchner nun schon durch die Stadt spaziert, dem noch unausgeschilderten Grünen Saum entlang, vorbei an Kleingärten, großen Straßen, kleinen Straßen, quer durch Grünanlagen und Wohngebiete. Er stand vor vielen freien Flächen, auf denen es einmal Angebote geben soll. Vereine, Initiativen, die gesamte Zivilgesellschaft ist aufgerufen, ihre Ideen einzubringen. In Hoyerswerda gebe es inzwischen das nötige Klima für eine rege Bürgerbeteiligung, sagt Toni Züchner. „Seit dem Wechsel von CDU zu SPD in der Stadtverwaltung wird bürgerschaftliches Engagement vom Rathaus unterstützt. Die da oben gibt es in Hoyerswerda nicht. Wer will, hat ausreichend Möglichkeiten, sich zu beteiligen.“ Das Verhältnis zum Bürgermeister beschreibt er als unkompliziert, auf Augenhöhe. Anfragen werden nicht langatmig bürokratisch beantwortet, sondern oft mit einem „Macht das gerne!“.

Wie im vergangenen Jahr bei den Aroniasträuchern, die auf einem Grundstück standen, das verkauft werden sollte. Wäre ja schade um sie, dachte Züchner, und bat im Rathaus um die Erlaubnis, sie an den Neustädter Gondelteich zu verpflanzen. Das Ja kam schnell, also rückte er gemeinsam mit anderen Aktiven sowie Schaufel und Spaten aus. Jetzt steht er in der Januarkälte vor den zurückgeschnittenen Büschen und hofft, dass sie im
Frühjahr wieder austreiben. Früchte tragen an ihrem neuen Standort. Teil eines öffentlichen Naschgartens werden. Als neue Station des Grünen Saums, versteht sich.

Wo Gemeinwohl wächst

Wo Gemeinwohl wächst

Sie buddeln und graben in Baulücken, auf Brachen und Splitterflächen: Immer mehr Menschen sorgen mit Gärtnern für mehr Gemeinschaft und Toleranz zwischen Kohlrabipflänzchen und Gurkensetzlingen. Ein Besuch im Beet.

Der Tomatenurwald liegt mitten in Magdeburg. Eingebettet zwischen der Haldensleber- und der Hugenottenstraße, inmitten von Wohnhäusern, Plattenbauten und dem wuchtigen Komplex des Gesundheits- und Veterinäramtes, zu DDR-Zeiten erbaut als Poliklinik Nord. Der Tomatenurwald, das ist ein Dickicht aus Tomatenpflanzen, die sich ohne stützende Stöcke oder nach oben korrigierende Bänder über den Boden und ineinander winden, die wachsen, wohin sie wollen. Den Namen „Urwald“ hat Sarah Willmann dem Beet ihres Gartennachbarn Abu gegeben. Ihr eigenes Tomatenbeet sieht ganz anders aus, von Urwald kann hier keine Rede sein. Willmanns Pflanzen sind fein säuberlich aufgebunden, werden an Metallstangen nach oben geführt. „Hier deutsch, da afghanisch“, lacht sie. „Ich beäuge Abus Beet kritisch-interessiert.“

Sarah, 30, und Abu, 60, sind Mitglieder des IkuGa, des Interkulturellen Gartens Magdeburg, gegründet vor elf Jahren im Stadtteil Neue Neustadt, einem sozialen Brennpunkt nördlich der Altstadt. Auf der Fläche stand früher ein Plattenbau; nach seinem Abriss wurde eine Hundewiese daraus. Bis Studierende des Bachelor-Studiengangs „Cultural Engineering“ an der Otto-von-Guericke-Universität als praktische Semesterarbeit ein soziales Projekt gründen sollten – und auf die Idee mit dem Interkulturellen Garten kamen. Seitdem überlässt die Wohnungsbaugesellschaft WOBAU Magdeburg, ein hundertprozentig städtisches Unternehmen, den Grund und Boden bis auf Widerruf dem IkuGa; Spender wie die Sparkasse, die Stadtwerke und Privatleute unterstützen mit Geld. Deshalb können am Kuckhoffplatz 8, hinter einem grünen Metallzaun, Eritreer und Deutsche, Rentner und junge Leute, Menschen unterschiedlicher Milieus und Lebensformen miteinander ackern.

Gemeinsam zu gärtnern, das ist keine neue Erkenntnis, generiert Begegnung, sorgt für Austausch, schafft Verständigung. Lässt Gemeinschaft wachsen wie Kohlrabipflänzchen oder Gurkensetzlinge. Im besten Fall erntet man am Ende Toleranz und Akzeptanz. Nicht nur in der Neuen Neustadt Magdeburg, sondern überall, wo die Beschäftigung mit Boden und Botanik als gesellschaftliches Therapeutikum eingesetzt wird. Die gemeinnützige Münchener Stiftung „anstiftung“ listet in ihrer Datenbank 878 urbane Gemeinschaftsgärten in Deutschland auf. Entstanden auf Brachen, in Baulücken oder auf Splitterflächen sind sie zumindest Teil einer Antwort auf die immer drängenderen Fragen: Wie wollen wir leben, wirtschaften, uns ernähren? Wie wollen wir unsere Städte gestalten? Wie sieht eine zukunftsfähige Lebensweise aus?

Die Klinke am Gartentor ist kaputt, als Sarah Willmann mit ihrem Freund Tobias Keßler, 32, und ihrem etwas über ein Jahr alten Sohn Simon an diesem heißen Montagnachmittag am Kuckhoffplatz ankommt. „Schon wieder!“, ruft sie, „Vandalismus!“ Willmann kennt diese Spuren von Aggression und Langeweile. Einmal fehlten an ihrem Pfirsichbaum im Garten alle Früchte; sie waren alle noch unreif, Mundraub konnte es nicht gewesen sein. Ein anderes Mal legte jemand Feuer am Gemeinschaftshäuschen und die Weinreben an seiner Außenwand fingen Feuer. Auch der Maschendrahtzaun rund um den Garten wird immer wieder demoliert; der Verein tauscht ihn stückweise gegen einen stabileren aus – immer wieder 20 Meter, wenn eine Spende hereinkommt. Sarah und Tobias bitten unter den Pavillon mit dem rot- und grüngestreiften Stoffdach, da ist Schatten. Um dieses Zentrum herum gruppieren sich die Beete, alle individuell in ihrer Größe, Form, Umrandung und Bepflanzung.

Die bunten Blumenbeete am Eingang pflegt Gabi, eine Rentnerin, die in der Nähe wohnt und jeden Tag da ist. Gabi kümmert sich. Um die Ordnung in der kleinen Kaffeeküche zum Beispiel. Sarah Willmann erzählt, dass Gabi sich oft mit Aster austausche, einer Frau aus Eritrea. „Gabi lässt sich gern inspirieren von dem, was Aster anbaut und wie sie das macht. Diese Beziehung zwischen den beiden hätte es sonst nie gegeben.“ Willmann und Keßler führen von Beet zu Beet, vorbei an dicken Lavendelbüschen, deren Blüten schwarz-blaue Holzbienen umkreisen. Ein Stück weiter wachsen Rote Bete, Mangold und Obststräucher, Reihen voller Kartoffelpflanzen, Kohlgemüse, Erbsen und Bohnen. „Das da ist Gerolds Fläche“, erklärt Sarah, „die hier bewirtschaftet Sven. Und das Beet da vorne gehört Arlind, der ist erst 18 und kommt aus dem Kosovo.“

Das Beet da vorne gehört Arlind,
der ist erst 18 und kommt aus dem Kosovo.

Gemüse säen und Teamgeist ernten
Heute ist Christoph Schmitz Ende Dreißig. Der Verein, den er 2014 gemeinsam mit zwei Partner:innen gründete, heißt inzwischen Acker e.V., ganz schlicht. Aus den damals 20 Gärten sind knapp 1300 geworden, auf Schul- und Kita-Geländen im ganzen Land. Fast 55.000 Kinder, sagt Lisa Schäfer, zuständig für Kommunikation, habe man in der ersten Jahreshälfte 2022 bereits erreicht, 162.000 Kinder insgesamt. Kinder und Jugendliche sind heute noch eine wichtige Zielgruppe für den Verein, aber sein Angebot hat sich stark verbreitert – auch Erwachsene lernen jetzt als Schüler:innen am Beet. 2018 startete das Programm „Die Ackerpause“. Kurz gesagt will es Urban Farming- und Office-Farming-Konzepte in Innenhöfe von Wohnungsbaugesellschaften und auf Terrassen von Bürogebäuden tragen. Nach dem Motto: „Gemüse säen, Teamgeist ernten“.

Für jede Firma, für jede Organisation wird ein individueller Plan entworfen – ebenso individuell sind die Kosten ab 390 Euro aufwärts. Mal wird eine Wiese zum Gemüseacker umgegraben, mal Hochbeete für den Parkplatz bestellt, mal Indoorpflanzkästen mit LED-­Beleuchtung aufgebaut, direkt neben dem Schreibtisch oder in der Kantine („Eine großartige Alternative zu Zierpflanzen und Plastikpalmen“, heißt es auf der Webseite). Gepflanzt wird bei allen Anbauformen gemäß den Prinzipien des ökologischen Landbaus; das Lehrmaterial gibt es wöchentlich via Newsletter, in der App sowie in Ackersprechstunden und Workshops vor Ort.

Jede Ackerpause folgt diesem Dreischritt: AckerkickOff mit Anlieferung, Aufbau und Bepflanzung, Ackermittendrin mit erster Ernte, schließlich das Ackerfinale mit „großem Erntefest“. Gelegenheit für Gespräche, die sonst nicht geführt würden. Mit Kollegen oder Nachbarn, die man vielleicht freundlich grüßt, aber erst beim Karotten-Pikieren am Hochbeet wirklich etwas über sie erfährt. „Es entstehen ganz andere Dynamiken als im Konferenzraum oder auf dem Hausflur“, sagt Lisa Schäfer. „Man lernt sich von einer neuen Seite kennen.“ Am Anfang gab es für die Ackerpausen-Teams regelmäßig Aufgaben, die sie an den Beeten lösen mussten. „Kleine Challenges“, nennt Lisa Schäfer das. Doch dann merkten sie und ihre Kolleg:innen, dass die Pflanzen ihre eigene Sogwirkung entfalteten. Auch ohne Ansage und Aufgabe trafen sich die Menschen am Feldrand, Beet oder Pflanzkasten, einen Kaffee in der Hand oder ein Feierabendbier. „Ziel erreicht“, sagt Schäfer, „von da an haben wir die Challenges einfach weggelassen.“

Es entstehen ganz andere Dynamiken als im Konferenzraum oder auf dem Hausflur.

Gärtnern für eine gesunde Gesellschaft
Die Internationale Gesellschaft GartenTherapie (IGGT) hat ihren Sitz im hessischen Grünberg. Ihr Präsident ist der Gärtner und Phytotherapeut Andreas Niepel; er leitet den Gartentherapie-Bereich einer großen Reha-Klinik. Niepel hat in Interviews beschrieben, welch wichtigen Beitrag Gärtnern „für eine gesunde Gesellschaft“ leistet. „Jedes Stückchen Grün hat das Potenzial, therapeutisch und sozial genutzt zu werden“, sagt er. Andere Experten sagen, es tue dem Menschen gut, Obst und Gemüse beim Wachsen zuzusehen. Dem Jahreslauf eines Gartenjahrs zu folgen, das aus Saat und Ernte, aus Wachstum und Vergehen besteht. Bindung und Verbindung zu spüren. Den Bezug zum eigenen Leben. „Das Leben wird immer urbaner“, zitiert das Magazin National Geographic Andreas Niepel. „Es gibt ein starkes Bedürfnis nach überschaubaren sozialen Konstrukten. Kleingärten und Urban Gardening boomen. Das ganze Thema dient dem sozialen Wohlempfinden viel mehr als der Ernährung.“

 

Das Prinzip SoLaWi
Auf den Feldern der „Kleinen Beete“ muss niemand, aber darf jede:r anpacken. Am dritten Samstag im Juli, die Wolken ziehen über den sächsischen Himmel, Blau wechselt mit Grau, T-Shirt- mit Pulloverwetter, ist Aktionstag. Wer mag, kommt raus nach Sehlis, den kleinen Weiler gut drei Kilometer entfernt von der Kleinstadt Taucha. Die Handvoll Menschen, die zum Mitarbeiten gekommen sind, hacken kleine Löcher in den Acker, stecken jungen Pak Choi hinein, drücken die Erde wieder fest. Manche tragen Sneaker, manche gehen barfuss übers Feld. Nach getaner Arbeit sitzen sie auf den aus Paletten gezimmerten Bänken vor dem Geräteschuppen, es gibt Kaffee mit Hafermilch und Kartoffeln aus der Pfanne.

Ein „solidarisches Gartenprojekt“ nennt sich der Verein Kleine Beete selbst. Er wirtschaftet nach dem Prinzip der Solidarischen Landwirtschaft (SoLaWi). Das bedeutet: Was auf den 1,3 Hektar gepachteter Fläche wächst, landet nicht ano­nym in einer Biokiste, nach dem Motto „Ware gegen Geld“. Die jungen Vereinsmitglieder, alle Leipziger, verstehen sich als „lokale Solidargemeinschaft“, die sich gegenseitig „eine Versorgung mit saisonalen, regionalen, ökologischen Leckereien ermöglicht“. Von den Monatsbeiträgen der Mitglieder kann der Verein als Arbeitgeber das Gartenteam bezahlen; drei Gärtner:innen sind es momentan. Was sie das ganze Jahr über anbauen, reicht für 70 bis 80 Ernteanteile, sprich Mitglieder. „Wir sind komplett selbst organisiert“, sagt Leonie Röhler, die sich um die Verwaltung kümmert, „wir leben von der aktiven Beteiligung unserer Mitglieder. Alle wichtigen Entscheidungen treffen wir gemeinsam in einem monatlichen Plenum.“

 

Alle wichtigen Entscheidungen treffen wir gemeinsam in einem monatlichen Plenum.

Das No-Dig-Prinzip
Nora Rösch ist seit Februar 2021 fest angestellt als Gärtnerin. Sie kommt aus Remscheid bei Köln, lebt in Leipzig, hat Philosophie studiert, aber schnell gemerkt, dass ein akademischer Job nichts für sie ist. Sie arbeitete als Saisonkraft in der Landwirtschaft, wechselte dann auf den Acker nach Sehlis. Ihr Rennrad lehnt an einem der Baucontainer, sie ist seit sechs Uhr morgens auf dem Feld. Es ist so heiß, 36 Grad sind es an diesem Tag, dass sie sich ihr T-Shirt über den Kopf zieht und es unter den Wasserhahn hält, bevor sie es wieder anzieht. „Wir arbeiten hier nach dem No-Dig-Prinzip“, erklärt sie. „Wir versuchen, jedes Umgraben, zu vermeiden. Das zerstört die Struktur des Bodens.“ Fragt man Nora im Schatten hinter dem Bauwagen, welche Art von Gemeinschaft hier entsteht, erzählt sie von der Bindung der Mitglieder an das Projekt – und alles, was es hervorbringt. „Unsere Mitglieder sehen, wie viel Arbeit da reingeht. Sie haben Verständnis, wenn etwas nicht klappt wie geplant. Wenn der Salat nicht keimt oder die Möhren Fraßstellen von Mäusen haben. Sie nehmen es, wie es kommt. Mich drückt die Verantwortung so viel weniger.“

In Taucha wächst neben dem vielen Biogemüse auch eine Gemeinschaft der Produzierenden. Die kleine Stadt hat sich in den vergangenen Jahren zu einer Art informellem Zentrum der Solidarischen Landwirtschaft entwickelt. Begonnen hat es mit der Gemüsekooperative Rote Beete eG, später kamen das Kollektiv Ackerilla, die Kleinen Beete und die kooperative Landwirtschaft Kola Leipzig dazu. Nora Rösch schätzt den Austausch und die Hilfe untereinander. „Gemüseanbau braucht so viel Erfahrung“, seufzt sie. Warum was nicht wuchs und wie man es in der nächsten Saison besser machen könnte, solche Fragen diskutiert sie gern mit Gärtner:innen der anderen SoLaWis. Oder leiht sich, obwohl sie bewusst ohne Maschinen arbeitet, mal die Fräse bei den Kolleg:innen der Ackerilla. „Ich bin da pragmatisch“, sagt sie. „Wir hätten die Wiese nie so schnell von Hand umgraben können.“

Ein Bürgermeister mit Telefon-Joker
Ein Anruf bei Tobias Meier, Bürgermeister von Taucha. Er ist gerade frisch wiedergewählt worden, für weitere sieben Jahre. Meier ist 44 und wird von einem breiten Bündnis aus SPD, Grünen, Linken und der FDP unterstützt. Was bietet seine Stadt, dass sich inzwischen vier Solidarische Landwirtschaften in Taucha niedergelassen haben? Meiers Antwort kommt prompt: „Hier gibt es Leute, die bereit sind, ihr Land zur Pacht an ökologisch arbeitende Gemüsebetriebe abzugeben, wir bieten ein gutes Umfeld, die Bevölkerung ist neuen Ideen wohlgesonnen, wir liegen nah an Leipzig.“ Er betrachte das Konzept der SoLaWi als wichtigen Beitrag zu einer notwendigen Ernährungswende, für ein größeres Bewusstsein, wo unser Essen herkomme.

Dolmetscher sollen das Projekt erklären
Mitglieder aus Taucha haben die Kleinen Beete nicht. Nora Rösch empfindet die Reaktionen der Tauchaer auf das Konzept der SoLaWi als weniger wohlgesonnen als der Bürgermeister. „Ich glaube schon, dass es da noch einige Vorurteile gibt.“ Die vier SoLaWis vor den Toren der Stadt, das hat auch Tobias Meier gesagt, seien ziemlich unterschiedlich. Manche idealistischer, manche politischer, andere mehr auf Wirtschaftlichkeit bedacht. Er selbst setzt auf die größte Kooperative.

In Magdeburg fängt Simon an zu quengeln. Es ist heiß, er ist müde, sein Mittagsschlaf musste wegen der Gartenführung ausfallen. Sarah Willmann und Tobias Keßler packen zusammen. Am Tor mühen sie sich mit der kaputten Klinke ab. In den vergangenen Jahren haben sie einiges versucht, um Menschen aus der Nachbarschaft für den Interkulturellen Garten zu gewinnen. Haben Feste organisiert und alle eingeladen. Die Kinder von nebenan kamen, es lockten Waffeln und eine Hüpfburg. Ihre Eltern blieben zu Hause. Deshalb hat der Vorstand jetzt über verschiedene Fonds eine Förderung beantragt, Geld für Dolmetscher. Sie sollen den Garten-Vorstand an die Haustüren der Nachbarschaft begleiten, um das Projekt zu erklären. Um zu erzählen, dass der Garten für Begegnung und Austausch steht, für Verständnis, Toleranz und Gemeinschaft.

Wenn der Antrag durchgeht, kommen vielleicht ein paar neue Beet-Nachbarn dazu. Eventuell wächst dann bald noch ein Tomatenurwald, mitten in Magdeburg.

Wann klopfte die erste Gemüse-Kooperative in Taucha an? Meier muss kurz überlegen, „2011, glaube ich, aber lassen Sie mich kurz meinen Telefonjoker anrufen“. Er legt den Hörer beiseite und wählt, dann ist Jan-Felix Thon mit im Gespräch, Teil des Vorstands der größten Tauchaer SoLaWi, Kola Leipzig. Thon kann genau sagen, wann die Roten Beete gegründet wurden, er war selbst dabei. 2011 stimmt. Sechs Jahre war Thon anschließend mitverantwortlich für den Freilandanbau der Roten Beete. 2018 kam dann das Angebot des Kirchenvorstands der St. Moritz-Gemeinde Taucha. „40 Hektar erstklassiges Land für den Gemüseanbau“, sagt Thon, „Die Chance konnte ich nicht verstreichen lassen.“ Mit einer kleinen Gruppe gründete er Kola Leipzig und baut nun „eine solidarische Landwirtschaft in einer neuen Dimension auf“. Bis zu 2000 Haushalte kann Kola nach eigener Auskunft mit frischem, regional und fair produziertem Bio-Gemüse versorgen. „Als Privatmann“, sagt Bürgermeister Meier, „bin ich auch Genosse bei Kola.“

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