Der neue Tu-rismus
- Ausgabe 03 / 2021
- geschrieben von Imke Bredehöft
Alte und neue Kulturtechniken
Das Projekt: Mitten im hügeligen Harzvorland liegt die ehemalige Residenzstadt Ballenstedt, und im Zentrum der Altstadt das „Gut Ziegenberg“: Zentrale des Vereins heimatBEWEGEN, den Nicole Müller gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen 2017 gegründet hat, um die zwar immer noch elegante, aber doch in die Jahre gekommene Kleinstadt mit neuem Leben zu füllen. Und das gelingt ihr in zahlreichen Projekte ziemlich gut. Immer unter dem Motto: „Stellen Sie sich vor, Ihre Stadt wäre wunderbar und Sie sind schuld daran!“
Gebündelt werden die Aktivitäten auf dem „Gut Ziegenberg“ oder um im Sprech des Vereins zu bleiben: dem heimatHOF. Ein Ort für BallenstedterInnen genauso wie für Reisende, für junge und alte Neugierige, der einlädt mit anzupacken, ins Gespräch zu kommen, gemeinsam nachzudenken und mitzugestalten.
Mitmachen: Auf dem Hof gibt es genügend Gelegenheiten, aktiv zu werden und dabei auch noch etwas zu lernen. Etwa beim Bau eines Schaf- und Ziegenstalls, beim Ernten der Streuobstwiesen, beim Hühner versorgen, im Mitmachgarten, bei Kräuterwanderungen, bei der Verarbeitung von Schafwolle, bei einer Einführung ins historische Färberhandwerk oder einfach bei selbstgebackenem Kuchen mit Zutaten aus dem Hofladen im eigenen Hofcafé. Auch handwerklich geschickte Leute finden immer etwas zu tun, denn fertig ist der Hof noch nicht. Ein wichtiger Meilenstein wurde im letzten Frühjahr allerdings schon erreicht: Fünf Herbergszimmer stehen UrlauberInnen und helfenden Händen seitdem zur Verfügung. Und wer glaubt, sich hier vor allem nur mit altem Kulturgut beschäftigen zu können, kennt den Verein nicht gut genug, der stetig auf der Suche ist nach neuen zukunfsweisenden Möglichkeitsräumen. Deshalb steht seit diesem Herbst auf dem Hofgelände auch ein zum MakerLabor ausgebauter Seecontainer. Ein außerschulischer Lernort, der nicht nur SchülerInnen zur Verfügung steht, um sich mit den digitalen Chancen der Zukunft vertraut zu machen.
Ort:
Ballenstedt
Kontakt:
Nicole Müller, Jan Söchting,
gutziegenberg.de
Übernachten:
fünf Ferienzimmer mit acht Übernachtungsplätzen, auch Zelt- und Wohnmobilstellplätze stehen zur Verfügung.
Horse meets Yoga
Das Projekt: Das Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde? Nicht unbedingt. Denn das eigene Glück lässt sich auch auf Augenhöhe mit den Vierbeinern finden. Zumindest wenn man sich in die Hände von Steffi Halupnik begibt, die sich auf pferdegestütztes Coaching spezialisiert hat. Und das geht so: Die studierte Psychologin und ausgebildeter Coach Halupnik geht mit ihren Coachees auf die Koppel. Sie stellt viele Fragen, ähnlich der systemischen Aufstellung fühlen sich die Befragten in bestimmte für sie problematische Konstellationen hinein. Immer mit dabei das Pferd – und das reagiert mit seinen feinen Sensoren auf die unterschwelligen Gefühle: Es wird unruhig, nähert sich dem Coachee oder wendet sich ab. „Das funktioniert eigentlich immer“, erklärt Halupnik, die durch diese Zuarbeit des Pferdes viel schneller an den Kern des Problems kommt, als bei einem Gespräch in der Praxis. Ihr Ziel: Menschen nachhaltig in eine bessere Balance mit sich und der Umwelt zu bringen. Deshalb bietet sie jetzt neben dem Coaching auf ihrem Hof auch Yoga an – wer will, auch das gerne auf der Koppel.
Mitmachen: Wer nicht nur die Seele baumeln lassen, sondern diese auch pflegen will, ist auf Halupniks denkmalgeschützten Vierseitenhof „Bauernhof Lisa“ genau richtig. Menschen jeden Alters und in jeder Lebenslage, ohne und mit Pferde-Vorerfahrung, können sich bei Steffi Halupnik eine erkenntnisbringende Auszeit gönnen, ob bei einer Einzel- oder Gruppenstunde, bei Yoga-Einheiten oder beidem. Die Beweggründe dürfen ganz unterschiedlich sein. In ihren regelmäßigen Wochenend-Seminaren geht es mal um verbesserte Führungsstile, ein gestärktes Selbstbewusstsein, Hilfe bei Entscheidungen oder beim Grenzen setzen. Weitere Themen willkommen.
Ort:
Wienrode
Kontakt:
Steffi Halupnik, wienro.de
Übernachten:
Platz für acht Gäste in zwei Ferienwohnungen
Agora in Harzgerode
Das Projekt: Dass das leerstehende Restaurant, das sich Solveig Feldmeier und Richard Schmid 2018 in Harzgerode kauften, ausgerechnet Athina hieß, hat schon fast prophetischen Charakter. Wie im antiken Athen die Agora, sollen die Räume des ehemaligen Lokals ein Anlaufpunkt für die Menschen zum Debattieren und Gestalten sein. Während im Obergeschoss des Hauses die eigene Wohnung samt mehrerer Gästezimmer eingerichtet ist, steht der ehemalige Speisesaal nun für Erzähl-Cafés, Philosophische Salons, Sport- und Tanzangebote zur Verfügung; das Außengelände seit Neuestem für einen BügerInnen-Garten. Nicht nur punktuell, auch strukturell bewegt das Ehepaar seit seinem Zuzug in die Kleinstadt einiges: Die Angebote werden im Verein ‚Soziokulturelles Zentrum ATHINA‘ gebündelt und die neugegründete Regionalgenossenschaft (Harz.Coop eG) kümmert sich um eine solidarische Stadtentwicklung. Und die Sterne stehen nicht schlecht, dass ihre vielen Pläne auch umgesetzt werden: Mehrere Jahrzehnte haben sie schon verschiedene Jugend- und Gemeinschaftsorte geschaffen.
Mitmachen: Gerne empfängt das Ehepaar UrlauberInnen. Nicht wie ein Hotel, eher wie ein offenes Haus, in dem Interessierte willkommen sind mitzureden, mitzulernen und mitzumachen. Entweder bei ihnen vor Ort, bei einer von Schmids Lernwerkstätten zu Genossenschaften oder beim befreundeten Gemeinschaftsprojekt Freie Feldlage. Bei letzterem entsteht gerade unweit von Harzgerode ein neuer Lern- und Lebensort, der vor allem viele junge ZuzüglerInnen anlockt. Auch hier gibt es viele Mitmachmöglichkeiten – sei es beim Bau von Komposttoiletten oder Kläranlagen, bei der Gartenarbeit oder beim Kochen. Und zur Entspannung liegt das fast unberührte Selketal vor der Tür, in dem man wandernd über die ganzen Impulse nachsinnen kann.
Ort:
Harzgerode
Kontakt:
Solveig Feldmeier und Richard Schmid, sz-athina.de
Übernachten:
Vier Übernachtungsplätze stehen zur Verfügung, für Anspruchslose ist auch eine Übernachtung mit Isomatte und Schlafsack im Wintergarten möglich. Auch Stellplätze vorhanden.
Vom Garten auf den Tisch
Das Projekt: Es ist ein geschichtsträchtiger Ort, an dem Zuchini, Fenchel, Kohlrabi, Auberginen, Gurken, Tomaten, Kürbisse und viele Obstbäume mit alten und fast schon vergessenen Apfel-, Birnen- und Pflaumensorten wachsen. Sie alle gedeihen auf dem drei Hektar großen Land des barocken Gutshof-Lausnitz von Alexe von Wurmb. Sie hat aus dem Gutshof in den letzten 15 Jahren einen Ort des nachhaltigen Lebens gebaut. Die Wirtschafts- und Politikwissenschaftlerin kehrte 2006 ihrem Job in Brüssel den Rücken. Mit Mitte Dreißig zog sie mit ihrem Mann und zwei kleinen Kindern auf den Hof, der bereits seit dem 18. Jahrhundert (mit Unterbrechungen) im Familienbesitz ist. Heute bewirtschaftet sie einen vielfältigen Gemüsegarten und Streuobstwiesen, deren Ernte für ihre Familie, Feriengäste und den Direktvertrieb vor Ort ausreicht. Eine Mosterei und Anzucht von Frühpflanzen kommen hinzu. Fernab vom geschäftigen Treiben der EU widmet sie sich nun ganz konkreten Herausforderungen des täglichen Lebens mit dem Anspruch und Willen, nachhaltige Lösungen im Einklang mit den Kreisläufen der Natur zu finden.
Mitmachen: Wie diese Lösungen aussehen, daran lässt Alexe von Wurmb zum Glück auch ihre Gäste teilhaben, die in einem ihrer zehn Ferienzimmer einen Ort der Ruhe finden können. Die können entweder die besondere Atmosphäre eines Spaziergangs unter den 250 Jahre alten Bäumen entlang der alten Steinmauern genießen, einen Permakultur-Workshop besuchen oder sich direkt mit der Gastgeberin auf einen Streifzug durch den alten Barockgarten begeben, saisonales Gemüse und Kräuter pflücken, sie in einem Kochworkshop verarbeiten und an der großen Tafel unter Kronleuchtern und bei Kerzenschein essen. Von „Farm to Fork“ eben.
Ort:
Lausnitz bei Neustadt an der Orla
Kontakt:
Alexe von Wurmb, gutshof-lausnitz.de
Übernachten:
zehn Ferienzimmer (auch als Gruppe buchbar). Platz für bis zu 20 Personen. Auch ein Wohnmobilstellplatz ist verfügbar.
Wald der Zukunft
Das Projekt: Inmitten monotoner Kiefernwälder hat die Wissenschaftlerin Barbara Ral eine grüne, ein Hektar kleine Oase geschaffen. Sie nennt sie „Insel der Vielfalt“. Vor zehn Jahren hat sie in der Nähe der Stadt Beelitz mit Hilfe eines Forstexperten ein kleines Stück Mischwald probeweise angelegt: verschiedene Ahornarten, Ebereschen, Robinien, Eichen, Lerchen, Sandbirken. Ein Experiment, um herauszufinden, welche Baumarten hier auf dem trockenen Sandboden neben der Kiefer am besten gedeihen. Der damalige Förster hielt sie für verrückt und prognostizierte keinen Erfolg. Ein Jahrzehnt später wächst hier „eine Pracht“, wie eben dieser Förster inzwischen zugibt, so dass die studierte Biologin mit der Waldpflege ganz schön viel um die Ohren hat. Die ist so lange nötig, bis der neue Wald als eingespieltes Ökosystem alleine klar kommt. Bis dahin heißt es, Bäume freischneiden, Wildzäune bauen oder Raupen absammeln, die zu diesem frühen Zeitpunkt den jungen Bäumen noch zu sehr schaden würden.
Mitmachen: Das alles ehrenamtlich und vor allem alleine zu stemmen, wäre nicht möglich. Deshalb richtet Barbara Ral Waldaktionstage aus und lädt Interessierte ein mitzuhelfen: Kinder, Erwachsene, mit oder ohne Vorwissen, Leute aus Beelitz oder Reisende, die entlang des Europaradwegs nicht nur schöne Landschaft bestaunen, sondern auch erhalten wollen. Mit Arbeitshandschuhen und kleinen Handsägen geht es für ein paar Stunden in den Wald. Nebenbei erzählt Barbara Ral Spannendes über die Bäume, gibt Tipps zum Klimaschutz im Alltag und zum persönlichen Schutz vor Hitze.
Ort:
Beelitz, Europaradweg B1
Kontakt:
Barbara Ral, Zebrahof.de, instagram @zeo_zwei
Übernachten:
Nach Anmeldung mit Zelt auf einer Wiese ca. 4km entfernt
Bauernhof als Schule des Lebens
Das Projekt: Vor vier Jahren haben die Lehrerin Lene Waschke und der Landwirt Matthias Peeters die BAUERei Grube gegründet – eine Solidarische Landwirtschaft im ländlichen Grube, einem Ortsteil von Potsdam. Hier verbinden sie das Beste aus ihren zwei Welten: Bildung und Landbau. Und dieses Prinzip findet sich sogar bei der Wahl der Hoftiere wieder. So sind die beiden Esel MarIA und Krawall nicht nur in ihren landbaulichen, sondern auch in ihren pädagogischen Fähigkeiten nicht zu unterschätzen: „Esel sind sehr kooperativ und haben ein sensibles Gespür für ihr Gegenüber. Stimmt etwas nicht, merken es Esel sofort“, erzählt Waschke, die nicht nur deshalb den Bauernhof für den besten Lernort für Kinder und Jugendliche hält. Für sie verschmelzen beim Landbau wichtige Lernerfahrungen von Handwerk über Biochemie bis soziale Interaktion und Natur erleben auf ganz natürliche Weise miteinander.
Mitmachen: Menschen jeden Alters schätzen die fast meditative Kraft der Ackerarbeit – auch Schulklassen aus dem umliegenden Havelland kommen regelmäßig auf den Bauernhof. Von Artischocke bis Zuckermais, über 80 Gemüsesorten werden auf dem 13 Hektar großen Land angebaut, demnächst ist noch Getreideanbau geplant und auch der Hof selbst hat noch viele Baustellen. Sechs Wochen ist derzeit der Minimumaufenthalt für Mitmach-Gäste. Gegen Kost und Logis helfen sie jeden Tag für mehrere Stunden mit. Das Lernen landwirtschaftlicher Grundfertigkeiten steht zwar im Mittelpunkt, aber es geht um mehr: um soziales Zusammenarbeiten, Verantwortungsgemeinschaft, um enkeltaugliche Nahrungsversorgung. Weil sich die beiden HofbesitzerInnen freuen, wenn davon immer mehr angetan sind, organisieren sie immer mal wieder offene Ackertage für interessierte Gruppen oder gerne auch für SchulleiterInnen und BürgermeisterInnen. Denn Waschkes Vision für die Zukunft lautet: „Jeder Schule einen Acker, jedem Kiez eine SoLaWi.“